Beitrag in der Reihe Perspektiven von Matthias Neumann. (Beitrag als PDF)
Dass die Caritas die Erstreckung des zwischen ver.di und der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) vereinbarten Tarifvertrages auf die gesamte Altenpflege abgelehnt hat, hat große Wellen geschlagen. Um die Bedeutung zu verstehen und sich hier positionieren zu können, sind Antworten auf ein paar Fragen zu finden: 1) Weshalb ist ein für die gesamte Branche geltender Tarifvertrag überhaupt erforderlich; weshalb wird die Lohnsicherung nicht einfach gewerkschaftlichen Kämpfen oder dem Marktmechanismus überlassen? 2) Weshalb wird dabei der ungewöhnliche Weg über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gewählt, um ein akzeptables Mindestniveau in der Altenpflege zu sichern? 3) Weshalb hat sich die Dienstgeberseite der Caritas zur Blockade entschlossen, und was ist von ihrer Aussage zu halten, sie wolle die guten Löhne der kirchlichen Träger schützen? 4) Und was ist jetzt zu tun?
1) Die Pflegeversicherung, über die die Finanzierung der Altenpflege abgewickelt wird, ist 1995 eingeführt worden, als neoliberale Politik im Aufwind war. Die gegenwärtige Pflegeversicherung soll Kosten durch Wettbewerb zwischen den Trägern senken und zugleich Profite ermöglichen. Deshalb ist sie im Unterschied zur Krankenversicherung nicht als Vollversicherung, sondern als gedeckelter Zuschuss geregelt. Der häufig verwendete Begriff der Teilkaskoversicherung ist nicht treffend: Während eine Teilkaskoversicherung einen Festbetrag der versicherten Person erfordert und die Versicherung die darüber hinaus entstehenden Kosten begleicht, ist es bei der Pflegeversicherung umgekehrt: Die Versicherung zahlt einen festen Zuschuss, mit dem großen Rest werden Familien und Kommunen alleine gelassen. Da die Zuschüsse nicht angemessen erhöht wurden, steigt die Eigenbeteiligung immer weiter. Dadurch führen höhere Löhne der Beschäftigten, die den Großteil der Betriebskosten eines Pflegeheims ausmachen, zu steigenden Pflegesätzen. Diese werden an die Kostenträger und insbesondere an die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen weitergegeben. Auch wenn Tariflöhne seit dem Pflegestärkungsgesetz I im Jahr 2015 in den Pflegesatzverhandlungen zwischen Heimbetreiber, Pflegekassen und Kommunen anerkannt werden müssen, übt diese Konstruktion der Pflegeversicherung Druck aus, die Löhne niedrig und die Personaldecke dünn zu halten: Die Kommunen möchten die Kosten begrenzen, die ihnen über die Zahlung von Hilfe zur Pflege entstehen, und auch die Kassen versuchen, ihre Ausgaben gering zu halten. Die Heimbetreiber wiederum konkurrieren um die Auslastung der Heimplätze. In dieser Konkurrenz sind angesichts des hohen und steigenden Eigenanteils für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen die Kosten ein zentrales Argument. Obwohl also Tariflöhne in den Pflegesatzverhandlungen anerkannt und finanziert werden müssen, gibt es für die beteiligten Seiten ein Interesse an niedrigen Löhnen in der Altenpflege.
Nun ließe sich annehmen, dass in der Altenpflege als einer Branche mit massivem Fachkräftemangel bereits der Arbeitsmarkt das Problem niedriger Löhne lösen würde. Die Entgelte in der Altenpflege steigen zwar tatsächlich sowohl für Fachkräfte als auch für Helfer*innen überdurchschnittlich, aber dieser Fortschritt ist angesichts der Lage der Beschäftigten viel zu langsam. Noch immer verdienen nach Daten der Arbeitsagentur Fachkräfte bei vergleichbarem Qualifikationsniveau 3% weniger als im Durchschnitt der Gesamtwirtschaft, Helfer*innen 8% weniger. Diese Differenz, die gar nicht so groß erscheint, gewinnt Dramatik angesichts der Tatsache, dass vor allem aufgrund der Arbeitsbelastung viel mehr Beschäftigte in Teilzeit arbeiten müssen als im Vergleich aller Branchen.
Dass diese Konstellation seitens der Gewerkschaft nicht genutzt wird, um schnellere Lohnsteigerungen durchzusetzen, hat mit der besonderen Konstellation in der Altenpflege zu tun. Diese erschwert es Beschäftigten sehr, den erforderlichen Druck aufzubauen: Im Unterschied zu Krankenhäusern, wo ein Streik durch die Beschränkung auf einen Notdienst die Einnahmen aus den Fallpauschalen verringert, fügt ein Streik im Pflegeheim dem Betreiber keinen direkten finanziellen Schaden zu. Denn die Pflegesätze werden während des Streiks weitergezahlt; die Einnahmen bleiben den Betreibern also erhalten. Die Situation ist in dieser Hinsicht mit der in Kitas vergleichbar. Allerdings kann eine Kita im Streik geschlossen und die Kinder in die Betreuung der Eltern übergeben werden. Das ist in einem Pflegeheim nicht möglich. Ein in der Branche arbeitender Freund sagte mir hierzu, dass in einem Streik, bei Notdienst, zudem das gestrichen würde, was den Bewohner*innen Freude macht. Das Verantwortungsbewusstsein der Beschäftigten gegenüber den Pflegebedürftigen beschränkt also ihre Handlungsfähigkeit im Arbeitskampf.
2) Der übliche Weg, einen allgemeinverbindlichen Tariflohn durchzusetzen, geht über das Tarifvertragsgesetz. § 5 TVG sieht allerdings nur dann einen gemeinsamen Antrag der Tarifparteien vor, einen Tarifvertrag als allgemeinverbindlich zu erklären, wenn dieser bereits für mindestens 50% der Beschäftigten gilt. Hiervon sind ver.di und BVAP weit entfernt. Da aber weder über den Arbeitsmarkt noch über den Pflegemindestlohn eine hinreichende Untergrenze der Löhne in der Altenpflege eingezogen wird, wurde im Arbeitnehmerentsendegesetz die Möglichkeit geschaffen, die Erstreckung eines Tarifvertrags über die gesamte Branche auch ohne die 50-Prozent-Hürde zu beantragen. Zusätzlich wurde den Arbeitsrechtlichen Kommissionen von Caritas und Diakonie jedoch ein Sonderrecht eingeräumt, indem ihre Zustimmung zu diesem Erstreckungsantrag erforderlich ist.
Wenn die Caritas erklärt, dass der Pflegemindestlohn eine hinreichende Untergrenze darstellen würde, sagen die Zahlen anderes: Der Tarifvertrag zwischen ver.di und BVAP liegt beim Mindestentgelt je nach Qualifikationsniveau 9%-10% über dem Pflegemindestlohn. Zumindest dieser Betrag, bei langjähriger Beschäftigung wesentlich mehr, entgeht Altenpfleger*innen, die gegenwärtig für den Pflegemindestlohn arbeiten.
3) Die Sonderrolle der kirchlichen Träger erklärt sich mit dem sogenannten Dritten Weg. Dieser konstruiert statt eines Lohnarbeitsverhältnisses mit Arbeitskampfrecht eine „Dienstgemeinschaft“, in der unter anderem das Streikrecht zumindest stark eingeschränkt ist. Eben diese Sonderregelung zu verteidigen, ist auch der einzig nachvollziehbare Grund für die Blockade eines allgemein erstreckten Tarifvertrags durch die „Dienstgeber“-Seite der Caritas. Eine entsprechende Aussage hat der Sprecher der „Dienstgeber“-Seite, Norbert Altmann, in einem Interview relativ versteckt gemacht: „Arbeitsrechtler warnen davor, dass der Dritte Weg dadurch grundsätzlich in Frage gestellt wird.“ Dieser Dritte Weg ist nun tatsächlich ein reines „Dienstgeber“-Interesse.
Das zu betonen ist wichtig, denn es hat eben nicht die Caritas und auch nicht ihre Arbeitsrechtliche Kommission als ganze diese Blockadehaltung eingenommen, sondern der Widerspruch gegen die Erstreckung des Tarifvertrags stammt von den „Dienstgebern“ in der Kommission, die durch deren paritätische Zusammensetzung ein faktisches Vetorecht besitzen. Die Mitarbeiter*innenseite der Kommission kritisierte wie auch viele katholische Sozialethiker*innen die getroffene Entscheidung massiv: Thomas Rühl, Sprecher der Mitarbeiterseite in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas, meinte: „Mit ihrer Verweigerungshaltung hat die Dienstgeberseite den Ruf und die Glaubwürdigkeit der Caritas massiv beschädigt.“ Selbst die Caritas als Gesamtorganisation sieht das Ergebnis ihrer Arbeitsrechtlichen Kommission kritisch: Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritas-Verbands, „erklärte am Freitag in Berlin, die Entscheidung der Arbeitsrechtlichen Kommission (AKR) „schadet der Glaubwürdigkeit der Caritas und sie kommt zu Unzeiten für die katholische Kirche““.
Denn die Caritas gehört wie die Diakonie nicht zu den Trägern, die besonders niedrige Löhne zahlen und insofern von einem über die gesamte Branche erstreckten Tarifvertrag negativ betroffen wären. Niedriglöhne zahlen insbesondere private, renditeorientierte Träger, aber auch andere wie das DRK. Es war also kein Zufall gewesen, dass gerade das Rote Kreuz sich nicht an der Tarifvereinigung BVAP beteiligte. Entsprechend sind es die beiden Vereinigungen privater Träger (AGVP und bpa), die neben der Evangelischen Heimstiftung die Verfassungsmäßigkeit eines für alle verbindlichen Tarifvertrags massiv bestreiten. Diesen Betreibern hat die Caritas also die Arbeit abgenommen und sich statt ihrer der wohlverdienten Kritik ausgesetzt.
Die „Dienstgeber“-Seite der Caritas führt als Argument für ihre Blockade an, dass sie keine höheren Löhne verhindern, sondern im Gegenteil ihr bestehendes Lohnniveau schützen wolle. Denn mit einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag sei die Anerkennung der besseren Arbeitsvertraglichen Richtlinien (AVR) der kirchlichen Träger gefährdet. Diese Aussage hat auch in progressiven Kreisen Verunsicherung gestiftet. Was ist von ihr zu halten?
Es heißt, dass ein auf die gesamte Pflegebranche erstreckter Tarif das kirchliche Lohnniveau gefährden könnte, indem in den Pflegesatzverhandlungen nur noch dieser Tarif anerkannt würde, nicht mehr jedoch bessere Regelungen in kirchlichen AVR oder im öffentlichen TV-Pflege. Das Gesetz, das hierfür Grundlage ist, gibt dies jedoch überhaupt nicht her. In § 84 Abs. 2 SGB XI heißt es nur: „Die Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden.“ Es gibt unterschiedliche Tarifverträge, und sie werden alle anerkannt. Das hier vorgebrachte Bedenken teilen auch weder ver.di noch die Arbeitnehmerseite in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas. Gerade letztere wären diejenigen, die von einer Verschlechterung direkt betroffen wären. Sie haben jedoch für eine allgemeine Erstreckung plädiert. Dieses Argument erscheint also vorgeschoben.
Zur Verteidigung des Arguments, die Löhne nach kirchlichen AVR seien gefährdet, wird, auch vom durchaus progressiven Theologen und Sozialwissenschaftler Franz Segbers, der genau wie ver.di oder Care Revolution die neoliberale Konstruktion der Pflegeversicherung kritisiert, ein Rechtsgutachten angeführt, das die Bedenken der „Dienstgeber“ stärke. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieses Gutachten jedoch als eine Luftnummer: Das Rechtsgutachten hat einen anderen Gegenstand; auf die hier relevante Frage wird auf den 70 Seiten in drei Sätzen eingegangen, spekulativ und ohne Diskussion von Rechtsnormen oder Präzedenzfällen. Zwar wird auf Seite 68 tatsächlich festgestellt: „Pflegekassen könnten einer Einrichtung, die mehr bezahlen möchte, entgegenhalten, dass eine Vergütung oberhalb des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages nicht mehr angemessen sei.“ Konkreter wird es jedoch nicht.
Ein juristisches Argument wird im Gutachten also nicht beigebracht. Im oben erwähnten Schreiben katholischer Sozialethiker*innen heißt es im Widerspruch zu diesem, dass durch eine Rechtsverordnung, die den Tarifabschluss zwischen ver.di und BVAP allgemeinverbindlich macht, „geltende Tarifverträge und … auch das Tarifwerk der Caritas nicht außer Kraft gesetzt (werden) – sofern die neuen Mindestbedingungen erfüllt werden.“ (S.5) Auch politisch ist naheliegend, dass in einer Situation akuten Fachkräftemangels in der Altenpflege eine Bezahlung nach besseren Regelungen jederzeit legitimierbar und vor allem durchsetzbar wäre. Umgekehrt würde der Versuch einer Absenkung des Tarifniveaus im Rahmen der Pflegesatzverhandlungen massive gesellschaftliche und betriebliche Proteste auslösen, die niemand riskieren würde. Es scheint also in jeder Hinsicht schlüssig, dass ver.di und die Beschäftigtenseiten bei Caritas und Diakonie in einem allgemein erstreckten Tarifvertrag kein Risiko sehen.
4) In seinem oben verlinkten Artikel erklärt Segbers, dass es darum ginge, gegen „das politisch gewollte Sozialdumping“ vorzugehen, das im Kern der Konstruktion der Pflegeversicherung steht. Hier ist ihm rückhaltlos zuzustimmen. Allerdings wird der Protest gerade von denjenigen getragen, die jetzt einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag einfordern. Von den kirchlichen Trägern dagegen ist ein solcher Protest stets nur punktuell, von einigen engagierten Angestellten und Gliederungen, zu hören gewesen. Tatsächlich ist es nötig, um eine solidarisch finanzierte Vollversicherung in der Pflege zu kämpfen. Angesichts der eingangs erwähnten Schwierigkeit, in betrieblichen Arbeitskämpfen Druck aufzubauen, ist hierfür gerade in der Altenpflege das Zusammenwirken von pflegenden Angehörigen, Beschäftigten sowie allen wichtig, die der Umgang mit Hilfebedürftigen und denen, die sich um sie kümmern, empört.
Bis wir hier weitergekommen sind, ist aber alles zu unternehmen, was die Situation der Beschäftigten in der Altenpflege verbessert. Dazu gehört ein über die Branche erstreckter Tarifvertrag. Diesem steht das „Nein“ der Caritas-Dienstgeber entgegen, die damit ihren undemokratischen kirchlichen Sonderweg verteidigen, auf Kosten von Beschäftigten in privaten Heimen, aber auch in vielen Einrichtungen von „freigemeinnützigen“ Trägern, denen dringend benötigte Lohnerhöhungen verweigert werden. Mit massiven und ausdauernden Protesten die Caritas-„Dienstgeber“ – und die der Diakonie, die sich gegenwärtig hinter der Caritas-Entscheidung verstecken können – zu einem Einlenken zu drängen, gehört sicherlich zu den erfolgversprechendsten Wegen, Verbesserungen zu erreichen.