Jenny Künkel und Kathrin Schrader haben ein Buch über Feministische Perspektiven auf Sexarbeit herausgegeben. Verschiedene Beiträge klären über die politische, rechtliche und gesellschaftliche Lage von Sexarbeiter*innen auf. Außerdem berichten Sexarbeiter*innen, wie sie sich politisch für ihre Rechte und die Anerkennung als Care-Arbeiter*innen einsetzen. Ein Beitrag von Stephanie Klee trägt den Titel „Care-Revolution & Prostitution“. Mit ihr und den Herausgeberinnen sprach Jette Hausotter (Care Revolution Berlin) über Sexarbeit, Care-Arbeit und Feminismus – auch angesichts der Corona-Krise.
Frage: Warum ein Buch über Sexarbeit und Feminismus? Was möchtet ihr damit bewirken?
Stephanie: Lange bevor ich mit der Sexarbeit angefangen habe, habe ich mich als Feministin verstanden und mich auch für unsere Rechte eingesetzt. Meine Diplomarbeit als Sozialarbeiterin schrieb ich zu dem Thema „Macht Prostitution frei? Eine vergleichende Analyse weiblicher Prostitution aus feministischer und marxistischer Sicht“. So war es für mich auch immer selbstverständlich, mich als feministische Sexarbeiterin zu verstehen und unter Feministinnen zu werben, sich auch für die Rechte von Sexarbeiter*innen einzusetzen und den Respekt für die Arbeit und die Entscheidung zu dieser Arbeit zu fordern.
Kathrin: Ich habe als Sozialarbeiterin viel in frauenspezifischen Bereichen gearbeitet und war lange Zeit der Annahme, dass ich gute feministische Soziale Arbeit mache. Ich habe damals aber nicht meine Perspektive hinterfragt, dass ich Menschen aus bestimmten Lebenssituationen befreien müsse. Klar ging es auch darum, ausbeuterische Verhältnisse zu verändern, aber ich musste einige Schleifen drehen, um zu verstehen, dass Hilfe nur funktioniert, wenn auch die Stimmen derer gehört werden, die wir als Sozialarbeiter*innen glauben retten zu müssen. Da sind Sexarbeiter*innen ja nur ein Beispiel unter vielen. Das Buch soll dazu beitragen, Sichtbarkeiten herzustellen und zeigen, dass bestimmte Erfahrungen und Wissensbestände auch von der feministischen Wissenschaft nicht berücksichtigt werden.
Jenny: Genau, die Bandbreite war wichtig. Oft gilt die abolitionistische Forderung, Prostitution durch ein Nachfrageverbot abzuschaffen, als DIE feministische Sicht. Sexarbeiter*innen, die dadurch in den Untergrund gedrängt würden, fühlen sich nicht repräsentiert. Umgekehrt denken nichtsexarbeitende Aktivist*innen oft, sie müssten Sexarbeit verdammen, um feministisch zu sein. Als Wissenschaftlerinnen, die mit Sexarbeiter*innen solidarisch sind, wollten wir zeigen, dass es auch andere feministische Perspektiven gibt: z.B. intersektionale Feminismen, die neben Geschlecht u.a. Ethnie und Klasse thematisieren. Diese verdeutlichen, dass Macht in standortgebundenen, arbeitsintensiven Gewerben wie Sexarbeit v.a. aus Migrationsregimen, (weiblicher) Armut und schlechter sozialer Absicherung entsteht sowie aus Stigma, Nicht-Anwendung von Arbeitsrecht und Drogenkriminalisierung. Damit zeigt die Perspektive: Sowohl das Strafrecht, das Abolitionist*innen fordern, als auch das Ordnungsrecht, das konservative Moralist*innen etablierten, geht an den Problemen vorbei.
Frage: Sexarbeit ist Care-Arbeit. Im Care Revolution Netzwerk sind Initiativen von Sexarbeiter*innen von Beginn an vertreten. Wo liegen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sexarbeit und anderen Care-Arbeitsbereichen?
Stephanie: Sexualität ist – für die meisten Menschen – Teil der wichtigen Reproduktionsarbeit. Gerade in unserer heutigen Gesellschaft mit enormem Stress auf der Arbeit, Doppelbelastung von Berufs- und Privatleben, immer mehr Singles, Senior*innen, die isoliert oder in der engen Struktur von Heimen wohnen, sowie einer allgemeinen gesellschaftlichen Kälte, gibt es einen Bedarf an Sexarbeit, um die unterschiedlichen Bedürfnisse ausleben zu können, für die es im Privaten nichts vergleichbares mehr gibt.
Jenny: Ein Unterschied ist: Nur bei Sex wird ein anderes Wort für die Tätigkeit verwendet, sobald es ein Entgelt gibt. Daher fällt es einem normativ-ethisch argumentierenden Teil des Care-Aktivismus schwer, Sexarbeit als Care anzuerkennen. Die ethische Perspektive wertet die marginalisierte Care-Arbeit als wichtig auf und fordert auf dieser Basis eine bessere Vergütung (z.B. qua Einkommen, oder Elterngeld). Das Argument ist letztlich: Die Tätigkeit ist per se gut. Von den Bedingungen kapitalistischer Erwerbsarbeit wird weitgehend abgesehen. Nun ist aber Prostitution qua Definition marktförmig. Dies bereitet auch vielen Linken und Feminist*innen Unbehagen. Das verstehe ich. Marktförmigkeit zu kritisieren ist wichtig. Doch viele Leute fokussieren ihr unbewusstes Unbehagen über den Kapitalismus und die Vermarktlichung immer weiterer gesellschaftlicher Bereiche auf eine Ablehnung der einzigen Tätigkeit, die einen anderen Namen bekommt, wenn sie marktförmig erbracht wird. Sie finden dann z.B. Hartz IV gerade noch okay, aber Sexarbeit darf in diesem System keine „zumutbare“ Arbeit sein.
Kathrin: Sexarbeiter*innen verlangen Geld für etwas, das „anständige“ Frauen eigentlich unentgeltlich leisten sollten. Sexarbeiter*innen dekonstruieren die romantischen Vorstellungen einer natürlichen Verknüpfung von Liebe und Sex, die allerdings nur ein Zwangskorsett und eine Illusion sind und dafür werden sie schlimm abgestraft. Die Exkremente von Menschen wegzuwischen, ist eine Held*innentat, die, wenn überhaupt, nur schlecht bezahlt wird, aber sie ist wenigstens gesellschaftlich anerkannt. Die Ejakulation wegzuwischen, ist hingegen Prostitution und damit verachtenswert. Ich würde noch weitergehen und das nicht nur auf den Körper beziehen. Psycholog*innen müssen in einem therapeutischen Setting in die finstersten und intimsten Bereiche ihrer Patient*innen eindringen, diese hervorholen und bearbeiten. Das passiert natürlich nur auf der psychischen Ebene und nicht stofflich, dafür werden sie in der Moderne gefeiert, die Arbeit am Selbst in Form einer Therapie oder Psychoanalyse gehört in bürgerlichen Kreisen zum guten Ton. Passiert in solchen Sitzungen nicht das gleiche? Warum ist das eine unerlässlich und wird von der Krankenkasse bezahlt, während das andere geächtet ist? Das hat auch etwas mit unserer Körperfeindlichkeit zu tun, der Trennung von Körper und Geist, letzten Endes, oder? Wir können nicht verhindern, dass Menschen ihre Speisen verdauen und wieder ausscheiden, dass sie alt und krank werden, aber wir können ihre Sexualität regulieren und disziplinieren, auch in Psychotherapien.
Jenny: In der Umkehrung dieses Stigmas fordern viele Sexarbeiter*innen, wie auch viele der Buchautor*innen zu Recht, dass ihre Arbeit genauso viel Anerkennung bekommt, wie andere Arbeit auch. Der ethische Care-Arbeitsdiskursstrang bietet mit seiner Aufwertungslogik ein Argument, was dafür ins Feld geführt wird. Das ist verständlich und richtig. Eine solche ethische Care-Arbeits-Perspektive reicht aber nicht aus. Das Buch ergänzt daher Stimmen, die fordern, nicht nur Sexarbeit als (Care-)Arbeit anzuerkennen, sondern auch (Care-)Arbeit als Ausbeutung. Aus einer dann analytisch-kapitalismuskritischen Perspektive zeigt sich eine zentrale Gemeinsamkeit von Sexarbeit und anderer Care-Arbeit: Es handelt sich um personennahe Dienstleistungen, die nicht im gleichen Maße rationalisierbar sind wie die Güterproduktion. Dadurch entsteht im Care-Sektor ein ständiger Lohndruck – solange wir nicht unsere Wirtschaftsweise ändern. Diese Gemeinsamkeit bietet Ansatzpunkte für solidarische Kämpfe.
Frage: Worin liegt die politische Bedeutung, Prostitution vom Standpunkt der Care-Arbeit aus zu betrachten? Gerade wenn wir beide Seiten jeglicher Care-Arbeit im Blick haben, die menschliche Sorge um- und füreinander genauso wie die Ausbeutung, die auch bei Care-Arbeit massiv stattfindet. Welche Forderungen ergeben sich daraus?
Kathrin: Die feministische Bewegung könnte viel stärker sein, wenn sie sich nicht spalten ließe und nicht auch selbst die Unterteilung in gute und schlechte Frauen* vornehmen würde.
Stephanie: Wenn beim Thema Care-Arbeit die Reproduktionsarbeit wie Nähe, Intimität, Sexualität und Geborgenheit mitgedacht und dieser Bedarf anerkannt wird, muss Sexarbeit dazugerechnet werden. Bei der Care Revolution habe ich immer bewundert, dass sie von Anfang an Sexarbeit mit einbezogen hat, wenn das auch nicht immer unumstritten war. In Punkto Solidarität im Care-Bereich geht es mir um die gemeinsame Basis, den kleinsten gemeinsamen Nenner. Sexarbeit darf hier nicht ausgeschlossen werden!
Jenny: Die Care-Arbeits-Perspektive zeigt ein systemisches Problem auf. Reproduktionsarbeit gilt im Kapitalismus als unproduktiv und wenig profitabel. Im Zuge der Neoliberalisierung wurden soziale Infrastrukturen abgebaut und der Effizienzlogik unterstellt. Gerade aus sozialen Sicherungssystemen rausgedrängte Migrant*innen arbeiten daher im informellen Care-Sektor zu schlechten Arbeitsbedingungen, z.B. in der häuslichen Pflege oder auf dem Straßenstrich. Wir brauchen daher eine bessere soziale Absicherung der Arbeiter*innen und ausreichende Finanzierung sozialer Infrastrukturen und müssen die Profit- und Wachstumslogik hinterfragen.
Frage: Und umgekehrt: Welche Erfahrungen und Strategien aus der Sexarbeitsbranche können für andere Gruppen im Netzwerk interessant sein? Ich denke hier zum Beispiel an die gewerkschaftlichen Organisierungsansätze oder an solidarische Bündnisse von Feminist*innen aus der Sexarbeit, der Wissenschaft und aus der Sozialen Arbeit.
Jenny: Care-Aktivist*innen können vom Sexarbeitsdiskurs lernen, Familie, Fortpflanzung und Sorge nicht unkritisch zu zelebrieren. Manche Forderungen im Namen von Care zielen auf Unterstützung privilegierter Sorgender statt auf Systemveränderung: So wird die bessere Bezahlung von Entbindungspfleger*innen mit den für die Rente wichtigen Kindern begründet, statt solidarisch eine ambulante Krankenhausnachsorge für alle zu fordern. Oder es wird mehr Geld (nur) für Geburtsstationen gefordert, statt die Abschaffung der neoliberalen Fallpauschalen. Der Care-Diskurs sollte nicht an konservative Familiendiskurse anknüpfen. Mütterlichkeit, Familie und Sorge für Kinder sind in der modernen westlichen Welt normativ aufgewertet. Dies zeigt nicht nur, dass Aufwertung kein Allheilmittel ist – im Gegenteil, soziale Aufwertung dient oft als Substitut für Bezahlung. Vielmehr zeigt es auch: Privilegiertere Care-Arbeiter*innen, deren Sorgearbeit biopolitisch erwünscht ist (z.B. die der Eltern innerhalb eines Rentensystems, das v.a. auf Arbeitnehmer*innenbeiträgen, statt Steuern und Umverteilung von Reich nach Arm beruht) müssen solidarisch mit und für weniger Privilegierte kämpfen. Und wir brauchen andere gesellschaftliche Strukturen, nicht nur ein größeres Stück vom Kuchen für Wenige. Sonst bleiben z.B. für Sexarbeiter*innen, die Konservativen als das Gegenteil von Mütterlichkeit, Familie, Sorge gelten, nur Krümel übrig.
Stephanie: Auch mir geht es beim politischen Engagement als Sexarbeiter*innen vor allem um strukturelle Fragen, um Gesetze, um Diskriminierung und um fehlenden Respekt. Hier können wir uns gegenseitig befruchten, voneinander in den Methoden lernen und gemeinsam auf die Straße gehen und politisch agieren – auch bei den Fragen nach einem Grundeinkommen, nach Werten und einer Veränderung der Gesellschaft. Wir Sexarbeiter*innen können dabei von anderen Gruppen lernen, uns für bessere Arbeitsbedingungen und Professionalisierung einzusetzen und wie wir uns besser vernetzen und gewerkschaftspolitisch aktivieren können.
Kathrin: Feministische Wissenschaftler*innen und Sozialarbeiter*innen sind nicht von den Stigmata betroffen und oft auch abgesicherter als Sexarbeiter*innen, und somit sollten Machtpositionen genutzt werden, um die Bedingungen derjenigen zu verbessern, die um ein Vielfaches vulnerabler sind.
Frage: Um das auf ein ganz aktuelles Problem zu beziehen: Die Sexarbeitsbranche ist massiv von der Corona-Krise betroffen. Prostitution wurde verboten. Wie wirkt sich das aus?
Kathrin: Aktuell haben Sexarbeiter*innen extreme Einkommensverluste. Die vulnerabelsten unter ihnen treffen die Maßnahmen zur Corona-Prävention existentiell. Diese Verletzbarkeit von uns allen sollte Anlass für Solidarität und nicht von weiterer Ausgrenzung sein.
Stephanie: Die momentane Situation in der Prostitutionsbranche ist sehr vergleichbar mit der Gastronomie, Bars, Diskotheken und Theater. Auch Bordelle mussten von heute auf morgen schließen und stehen jetzt vor der Frage, ob sie die Zeit bis zur Wiedereröffnung mit den weiterlaufenden Kosten für Miete, Strom, Telefon, Werbung und Personalkosten überstehen werden. Ebenso schwierig gestaltet sich die Situation für die vielen selbstständigen Sexarbeiter*innen. Sie stehen jetzt ohne Einnahmen da, haben in der Regel keine Rücklagen angesammelt und müssen doch essen und trinken und das Dach über dem Kopf sicherstellen. Natürlich gehen wir davon aus, dass alle staatlichen Systeme und die zusätzlich eingerichteten Rettungsschirme auch für uns gelten werden. Wir sind Solo-Selbstständige und Unternehmer*innen wie die anderen auch. Sorgen müssen wir uns allerdings um die Sexarbeiter*innen, die eh schon von der Hand in den Mund lebten, unregelmäßig anschaffen gingen, keine eigene Wohnung haben und in Pensionen lebten, vielleicht Drogen konsumieren oder aus anderen Gründen schon durch so viele Netze gefallen sind und nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Sie brauchen jetzt schnell, unbürokratisch und niedrigschwellig Geld für Essen und Trinken und Notunterkünfte – in jeder Stadt.
Frage: Was muss sich – auch abgesehen von der Corona-Krise – am dringendsten ändern, rechtlich, politisch und gesellschaftlich, damit Sexarbeiter*innen gut arbeiten und leben können? Welche Allianzen wünscht ihr euch dafür innerhalb der Care-Bewegung?
Stephanie: Das wichtigste ist eine Korrektur der bestehenden Gesetze. Alle Sondergesetze gehören abgeschafft, besonders das so genannte ProstituiertenSchutzGesetz mit seiner Zwangs-Gesundheitsberatung, seiner Zwangs-Registrierung, seiner permanenten Überwachung und Kontrolle und der fehlenden Absicherung der Bordelle, den unsinnigen Auflagen für Bordelle und der Gefahr von deren Schließung. Statt dieser Kriminalisierung muss Prostitution wie jedes andere Gewerbe eingegliedert werden z.B. im Gewerbe- und Baurecht. Sexarbeiter*innen und Bordellbetreiber*innen brauchen die gleichen Rechte wie andere Erwerbstätige und Unternehmen. Aber wir brauchen auch einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, um endlich von den Klischees und Mythen und Stigmata wegzukommen hin zu einer realistischen Betrachtung der Sexarbeit. Bei beidem wünsche ich mir einen engeren Schulterschluss mit den einzelnen Gruppen bei der Care Revolution.
Jenny: Genau! Zusätzlich könnten bedingungsarme Einkommensalternativen (z.B. ein Grundeinkommen) es erlauben, „Nein“ zu schlechten Arbeitsbedingungen zu sagen. Papierlose und Drogenkonsument*innen könnten von Legalisierung profitieren.
Vielen Dank für das Interview!
Besprochenes Buch: Jenny Künkel, Kathrin Schrader (Hg.) 2019: Sexarbeit – Feministische Perspektiven. Unrast Verlag.