Care Revolution | Interview in der Brigitte mit Gabriele Winker
zurück

Interview in der Brigitte mit Gabriele Winker

Aktuelles – 09. März 2017

W I R K Ü M M E R N U N S U M A L L E S. W E R K Ü M M E R T S I C H U M U N S ?

Früher waren die Frauen für Familie und Haushalt zuständig. Daran hat sich nichts geändert. Nur dass wir

heute auch noch Geld verdienen sollen, um uns notfalls allein über Wasser halten zu können. Die Folge: entweder

Arbeit ohne Ende – oder drohende Armut. So kann es nicht weitergehen! Das jedenfalls findet die

Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker

Interview: Julia Karnick

Quelle: BRIGITTE WOMAN 4/2017

BRIGITTE WOMAN: Vor allem viele Frauen haben das Gefühl, ständig zu wenig Zeit zu haben, um allen familiären

und beruflichen Anforderungen gerecht werden zu können. Sie behaupten, das sei kein individuelles Problem, sondern ein Systemfehler.

GABRIELE WINKER: Der Fehler liegt darin, dass die Erwerbsarbeit immer anstrengender wird, während die familiäre

Arbeit nicht abnimmt. Wer berufstätig ist und für andere zu sorgen hat, hat Arbeit ohne Ende. Das trifft vor allem Frauen, die selbst, wenn sie berufstätig sind, nach wie vor den größten Teil der unbezahlten Sorgearbeit leisten.

Was genau gehört dazu?

Unter Sorgearbeit, auch Care-Arbeit genannt, versteht man alle Tätigkeiten, bei denen wir uns um andere oder um uns selbst kümmern.

Es ist Arbeit, sich um sich selbst zu kümmern?

Wenn die Selbstsorge dazu dient, unsere Erwerbs- und Konkurrenzfähigkeit zu erhalten, ja. Rehas und Kuren werden immer seltener bezahlt, auf der Erwerbsunfähigkeitsrente kann man sich auch nicht ausruhen: Es wird erwartet, dass wir fit bleiben und uns ein Leben lang weiterbilden. Das allein ist eine ganze Menge an Anforderungen. Die meisten von uns sorgen noch für andere. Genau, und wenn wir außerdem einen Familienhaushalt
führen, Kinder erziehen, pflegebedürftige Angehörige unterstützen oder Freundinnen beistehen, kommt die
Selbstsorge leicht zu kurz. Für Muße – für Tätigkeiten, die reiner Selbstzweck sind, von keinerlei Leistungsanforderungen bestimmt – ist fast gar keine Zeit mehr. Wir wundern uns, warum so viele überarbeitet sind und psychische Erkrankungen ständig zunehmen, dabei zeigen Statistiken: In Deutschland leisten Erwachsene im Vergleich zur Erwerbsarbeit das 1,4-Fache an unbezahlter Care-Arbeit. Trotzdem wird bei uns fast nur über die Belastungen in der Erwerbsarbeit geredet.

Woran liegt es, dass die Sorgearbeit so aus dem gesellschaftlichen Blickfeld geraten ist?

Ich würde sagen: Sie war nie im Fokus. Denn Sorgearbeit gilt traditionell als Frauensache, als Das-kann-
doch-jede-Arbeit. Früher war es ja tatsächlich üblich, dass Frauen für die Familien- und Hausarbeit weitestgehend allein zuständig und deutlich seltener erwerbstätig waren alsMänner. Das wollte die zweite Frauenbewegung ab den späten 1960ern ändern. Frauen sollten wie die Männer Geld verdienen,
unabhängiger werden und ihre Fähigkeiten auch im Beruf einsetzen können. Nun müssen wir einsehen: Zwar ist es uns gelungen, die Unterschiedlichkeit im Berufszugang von Frau und Mann zu verringern, und das ist auch gut so. Aber dafür sind wir jetzt neuen Zwängen ausgesetzt.

Welche Zwänge sind das?

Zum Beispiel der Zwang, zwei Jobs auf einmal zu machen, den der Berufstätigen und den der Sorgearbeitenden:
Frau und Mann sollen sich, so will es unser neoliberales Wirtschaftssystem, jeweils allein ernähren können,
also möglichst beide durchgehend Vollzeit erwerbstätig sein. Die unbezahlte Care-Arbeit sollen sie nebenbei schaffen. So ist es politisch gewollt und in den vergangenen Jahrzehnten auch nach und nach durchgesetzt worden.

Auf welche Weise?

Bis in die 1970er-Jahre dominierte vor allem in der BRD und den anderen deutschsprachigen Ländern im Westen das
Ernährermodell, also die Idee, dass es in einer Familie einen Ernährer gibt, meist der Mann, und die Frau zu Hause bleibt. Dann kamen das Ende des Kommunismus, der DDR und des Kalten Krieges. Die Globalisierung verschärfte sich und damit der weltweite ökonomische Wettbewerb. Der führte dazu, dass das Familienernährermodell zu teuer wurde. Es beruhte ja darauf, dass bis in die untere Mittelschicht hinein Gehälter gezahlt -wurden, die reichten, um eine mehrköpfige Familieabzusichern – der sogenannte Familienlohn. Wir -Feministinnen hatten angeprangert: Dass Frauen zu Hause unentlohnt die ganze Arbeit machen, läge vor allem im Interesse der Unter- nehmen, weil das für sie die billigste Lösung sei. Aber wir hatten uns geirrt.

Inwiefern?

Das viel billigere und gewinnbringendere System ist, wenn alle Erwerbsfähigen auch erwerbstätig sind – und die Sorgearbeit obendrauf erledigen. Denn dann kann man den Einzelnen niedrigere Löhne zahlen. So kam es nach und nach zu Reallohnsenkungen, vor allem in der Dekade von 2000 bis 2009. Heute gibt es Gehälter, von denen eine Person zwei oder gar vier andere miternähren kann, ja nur noch bei den Spitzenverdienern.
Es war nicht der Wille zum gesellschaftlichen Fortschritt, sondern der Neoliberalismus, der dafür sorgte,
dass die berufstätige Frau zum Ideal wurde? Ja, plötzlich wurden uns Frauen „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ auch von der Politik sehr schmackhaft gemacht. Die Frauenbewegung begrüßte die verbesserten Berufschancen, zumal eine sehr gut ausgebildete Generation junger Frauen in den Startlöchern stand: Rein in die -
Berufswelt und zeigen, was wir können – das ist es, was wir wollen!

Die Frauenbewegung hat sich zum Instrument neoliberaler Wirtschaftspolitik gemacht?

Manche sehen das so, etwa Nancy Fraser, eine bekannte US-Soziologin. Man muss aber berücksichtigen: Jede sozialeBewegung, die wie die -Frauenbewegung keine Mehrheitsbewegung und dennoch erfolgreich ist, hat das vermutlich der Tatsache zu verdanken, dass ihre Ziele auch ganz anderen Gruppen nützen. Sicher aber haben wir zu spät erkannt, dass auch die Sorgearbeit wieder in die feministische Diskussion gehört: Versorgt werden und für andere sorgen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Aber wer soll das machen, wenn alle ständig
Geld verdienen müssen? Also zurück zur Hausfrauenehe? Nein. Aber ständig im Hamsterrad zu laufen ist auch
keine Freiheit. Und das müssen die meisten Frauen, es sei denn, sie haben Vermögen – oder einen sehr gut verdienenden Ehemann. Selbst der gut verdienende Ehemann ist seit der Reform des Unterhaltsrechts 2008 kein Garant mehr für eine lebenslange Absicherung. Dieses Gesetz ist Ergebnis neoliberaler Familienpolitik. Die galt noch unter Gerhard Schröder als „Gedöns“. Dann war sie plötzlich wichtig in dem Sinne, dass sie ein Mittel zur Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik wurde, die mit dem neuen Unterhaltsrecht
durchschlagend und massiv spürbar für Frauen durchgesetzt wurde. Nur, dass das kaum jemand bemerkte. Und als wir es bemerkten, war es zu spät. Seitdem gilt das neoliberale Prinzip der totalen Eigenverantwortung auch in der Familie. Der Staat macht klar: Die Ehe ist keine Absicherung, ihr müsst jederzeit allein für euch selbstsorgen können. Das ist der Anspruch. Die Realität ist eine andere:Die meisten Ehen mit Kindern sind Halbversorgerehen, die noch vom Ehegattensplitting profitieren. Der Mann verdient einigermaßen im Vollzeitjob, die Frau arbeitet Teilzeit. Denn anders ist die familiäre Sorgearbeit kaum zu schaffen. Das geht so lange gut, bis die Ehe scheitert, dann rutschen viele Frauen sozial ab. Alleinerziehende gehören zu denen, die am meisten leiden. Zwar beziehen über 40 Prozent der Alleinerziehenden Hartz IV, aber von denen ist nur ein Drittel nicht erwerbstätig. Ein weiteres Drittel arbeitet Teilzeit, das letzte Drittel sogar Vollzeit – aber weil viele nur den Mindestlohn erhalten, reicht das Geld trotzdem nicht. Deshalb sind sie auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das System funktioniert also gar nicht, obwohl die Mehrheit der Alleinerziehenden exakt das leistet, was es von ihnen erwartet: Sie versuchen, allein für ihre Existenzgrundlage zu sorgen. Und ziehen Kinder groß – auch das liegt ja im Interesse der Wirtschaft, die neue Arbeitskräfte und
Konsumenten braucht. Immerhin wurden die Kita-Kapazitäten auch für unter Dreijährige ausgebaut, und das Elterngeld wurde eingeführt. Familienförderung findet immer dort statt, wo die Wirtschaft ein Interesse daran hat, und die Wirtschaft hat ein Interesse daran, Fachkräfte im Arbeitsmarkt zu halten. Darum
profitieren von diesen Maßnahmen vor allem gut ausgebildete Doppelverdienerpaare. Das Elterngeld in seiner jetzigen Formist etwas vom Unsozialsten, das mir in den vergangenen Jahren
über den Weg gelaufen ist.

Warum?

Weil damit Kinder schon bei der Geburt unterschiedlich viel wert sind, nämlich umso mehr, je besser die Eltern
verdienen. Das Elterngeld wird als Lohnersatzleistung verkauft. Dabei wird es aus Steuern finanziert, nicht etwa aus dem Sozialversicherungssystem, in das lohnabhängig, also unterschiedlich eingezahlt wird. Die Botschaft: Ihr gut qualifizierten Frauen, kriegt Kinder, für die ihr im ersten Jahr zu Hause bleiben dürft, aber dann gebt sie in die Kita und geht weiter eurem Beruf nach. Der Staat unterstützt euch dabei – aber nur die qualifizierten. Aber auch die merken irgendwann: voller Einsatz im Beruf und nebenher Familie, das ist selbst mit Kita nur unter riesiger Kraftanstrengung zu schaffen. Deshalb ökonomisieren die, die sich das leisten können, die Care--Arbeit. Sie bezahlen andere dafür, ihnen einen Teil davon abzunehmen: Babysitter, Putzfrauen, Nachhilfelehrerinnen, Altenbetreuerinnen. Dass die allermeisten dieser Beschäftigungsverhältnisse irregulär sind, schlecht und schwarz bezahlt, ohne Urlaubsanspruch oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ohne Beitragszahlung in die Sozialversicherung, interessiert kaum jemanden: ein Skandal,
der meiner Überzeugung nach bewusst geduldet wird, weil das ganze System sonst nicht funktionieren würde.

Weil es für die meisten Familien sonst zu teuer wäre?

Ja. Andererseits brauchen sie diese Hilfe, wenn beideEltern berufstätig sind und die Großmutter nicht um die Ecke wohnt oder nicht mehr fit ist. Viele, die so jemanden beschäftigen, haben ein schlechtes Gewissen – trotzdem spielen sie das Spiel einfach mit. Daran zeigt sich: In diesem System leiden die am wenigsten, die beruflich sehr erfolgreich sind – das allerdings auf Kosten anderer. Hinzu kommt: Viele dieser Sorgearbeiterinnen holen wir aus Regionen mit niedrigerem Lohnniveau als bei uns, etwa aus Osteuropa.
Deren Kinder müssen dann von Verwandten versorgt werden: Wir importieren Care-Arbeitsleistung aus dem Ausland, die dann dort vor Ort fehlt. Dann gibt es noch die vielen, die sich Hilfe bei der Sorgearbeit gar nicht leisten können. Was zu einer extremen Doppelbelastung wird, wenn beide Eltern sehr viel bezahlte Arbeit leisten müssen, weil sie zu jenen Geringverdienern gehören, die sich mühen, ohne staatliche Unterstützung auszukommen. Dazu gehören die, die mit zwei oder drei Jobs versuchen, ein Familieneinkommen zu erwirtschaften. Diesen Eltern bleibt kaum Zeit für Sorgearbeit, nicht für sich selbst, aber oft auch viel zu wenig für die Kinder – mit entsprechenden Folgen für deren Entwicklung und Bildungslaufbahn.

Sind Hausfrauen heutzutage die wahren Rebellinnen?

Mit solchen Schlagworten kommt man nicht weiter – die führen nur dazu, dass Frauen gegeneinander ausgespielt
werden. Ich möchte stattdessen etwas anderes herausstellen: Der Mensch ist kein autonomes Wesen, das so vor sich hin arbeitet, Geld anhäuft und damit glücklich wird.Sondern? Ich bin davon überzeugt, dass wir alle Sorge
benötigen. Nicht nur Kinder, Alte und Kranke, sondern auch jeder gesunde Erwachsene. Und wir haben das Bedürfnis, uns um andere zu kümmern. Versorgt werden und füreinander sorgen – das ist ein grundlegendes menschliches Recht, das im Zentrum des politischen Handelns stehen sollte. Die Frage ist: Wie schaffen wir es, Erwerbsarbeit so zu verkürzen, dass genug Zeit für die unbezahlte Sorgearbeit bleibt?

Was schlagen Sie vor?

Umwandlung des Ehegattensplittings in ein Familiensplitting. Reduzierung der Normalarbeitszeit auf 30 Stunden. Einführung eines armutsresistenten Mindestlohns. Ich bin auch für die Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens. Das löst nicht alle Probleme, aber es wäre eine menschenwürdige Form der Grundsicherung.

Wer soll das alles bezahlen?

Ich bin ja noch gar nicht fertig! Denn nach der unbezahlten Sorgearbeit kommt gleich das nächste Thema – die
schlechten Arbeitsbedingungen in der bezahlten Care-Arbeit, in Krankenhäusern, Kitas, Pflegeheimen, Schulen, in der Sozialarbeit. Schauen Sie sich mal die Altenpflegerinnen an! Die leisten wertvollste und wichtigste Arbeit, bekommen dafür aber noch mal im Schnitt 500 Euro im Monat weniger als die unterbezahlten Krankenpflegerinnen, also einen Hungerlohn. Und sie sind ständig im Stress, weil das Personal viel zu
knapp ist: In keinem Beruf ist die Zahl der psychischen Erkrankungen höher. Die Kinder brauchen wir, in die wird nochinvestiert, aber die Alten scheinen in einer profitorientierten Gesellschaft völlig nutzlos, also wird
dort am meisten gespart. Die Pflegesätze aus der Pflegeversicherung wurden gerade erhöht.
Immerhin. Das ändert aber nichts daran, dass die Pflegeversicherung – anders als die Krankenversicherung –
1995 als Teilkaskoversicherung eingeführt wurde, da war schon das neoliberale Prinzip auf dem Vormarsch: Die Politik hat von Anfang an damit gerechnet, dass die Mittel zu knapp werden und die Familien einspringen müssen.

Warum sollte die Wirtschaft daran ein Interesse haben?


Wer seine Eltern pflegen oder darum bangen muss, ob sie im Heim gut versorgt sind, dessen berufliche Leistungsfähigkeit leidet womöglich darunter.Nun, Pflegebedürftigkeit stellt sich ja durchschnittlich immer später im Leben ein, oft erst mit 80 oder sogar 90. Deshalb sind die pflegenden Töchter und Söhne Partnerinnen und Partner – ein Drittel sind inzwischen Männer
– oft schon jenseits von 60: Pflege, die von jemandem geleistet wird, der Rente erhält, ist kostenneutrale Pflege. Insofern geht die Rechnung oft auf.

Zurück zu der Frage: Wer soll das bezahlen?

Wir sind eines der reichsten Länder der Welt! -Natürlich ist gute Sorgearbeit nicht umsonst zu haben. Damit
Care-Arbeiterinnen mehr verdienen und ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden können, müssten wir richtig Geld in die Hand nehmen – etwa durch höhere Besteuerung von gutVerdienenden und Vermögen. Natürlich können wir sagen: Wirlassen alles beim Alten, selbst wenn wir uns dabei krank arbeiten. Dann kann die Care-Arbeit, die ja keinen unmittelbaren Gewinn erwirtschaftet, sondern Kosten verursacht, so billig wie möglich bleiben. Aber ist das Lebensqualität? Ich bin davon überzeugt: Es führt uns in eine handfeste Krise, wenn wir so weitermachen.

Wie sieht die aus?

Schon jetzt haben viele Menschen in ganz verschiedenen Lebenssituationen das Gefühl, dass etwas Grundlegendes nicht in Ordnung ist – das sehen wir an den Treffen unseres Netzwerkes „Care Revolution“, das sich für bessere
Bedingungen in der Sorgearbeit einsetzt. Da sitzen katholische und evangelische Christinnen mit
Gewerkschafterinnen und jungen, linken Revoluzzern zusammen und sind sich einig: Wir müssen dafür kämpfen, dass die gegenseitige Sorge füreinander nicht weiter der Kostenminimierung unterworfen wird. Massenhaft Unzufriedene
folgen allerdings derzeit den rechten Demagogen. Wir müssen dem Rechtspopulismus dringend etwas entgegensetzen – nämlich einen humanen Vorschlag, wie wirklich alle in die Lage versetzt werden können, für sich selbst und andere zu sorgen, also ein gutes Leben zu führen.


Erschienen in Brigitte Woman 04/2017, S. 52-58

Feminismus aktuell - Beitrag von Antje Schrupp in der Frankfurter Rundschau 09. März 2017
Care Revolution Rhein-Ruhr - 10. Regionalgruppe des Netzwerks 08. März 2017