Care Revolution | Projekt „Ruheräume für die Innenstädte“
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Projekt „Ruheräume für die Innenstädte“

Aktuelles – 29. Juli 2025

Diesen Beitrag hat uns eine Mainzer Aktivistin zur Verfügung gestellt. Sie möchte mit Ruheräumen in der Innenstadt die Bedingungen für alle, die durch Lärm und allgemein Reizüberflutung beeinträchtigt sind, verbessern – mit eigentlich ganz einfachen, selbstverständlichen Vorschlägen. Doch auch zu denen heißt es „kein Geld, keine Chance“. Die im Text erwähnte Gruppe „Wir sorgen gemeinsam“ ist Kooperationsorganisation im Netzwerk Care Revolution.

Das Projekt „Ruheräume für die Innenstädte“ wurde von mir – Trautchen – ins Leben gerufen. Entstanden ist die Idee aufgrund meiner eigenen Betroffenheit: Ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung (kurz: PTBS) und – wie vielen anderen Menschen – ist mir die schnelle, laute und hektische Innenstadt manchmal einfach zu viel. Mit den vielen anderen Menschen meine ich folgende Personengruppen, die als mögliche Zielgruppe für das Projekt in Frage kommen: Neurodivergente Menschen[1], Menschen mit psychischen Erkrankungen (PTBS, Dissoziationen u.v.m.) und im Prinzip ALLE Menschen, denn – ich denke das ist klar – jedem Menschen kann die lärmende Innenstadt einfach mal zu viel werden!

Aber warum brauchen wir eigentlich Ruhe(räume)?

Wir brauchen Ruheräume, um allen Menschen Teilhabe zu ermöglichen, denn jeder Mensch sollte Arzttermine und Behördengänge in den Innenstädten wahrnehmen oder einkaufen gehen können. Teilhabe ist ein zentrales Menschenrecht! Ein Ruheraum ist also kein Luxus, sondern eine Form der Barrierefreiheit vergleichbar mit einem Aufzug für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen! Um es Lokalpolitiker*innen schmackhaft zu machen: Teilnehmende Innenstädte würden dadurch selbstverständlich auch von einem inklusiveren Image profitieren! Viele neurodivergente Personen zum Beispiel – etwa mit Autismus oder ADHS – haben ein besonders sensibles Nervensystem und reagieren stärker auf Sinneseindrücke wie Licht, Geräusche, Gerüche oder soziale Interaktionen. Wir brauchen also Ruhe…

-          um Stressreaktionen zu verringern

-          um dem Gehirn eine Pause von der Reizverarbeitung zu ermöglichen

-          zur Regeneration, Selbstregulation (⟶ Skills[2] & Stimming[3]) & Beruhigung

-          zur Konzentration und Leistungsfähigkeit

-          zur emotionalen Balance

-          zur Prävention von Krankheiten, Shut Downs[4], Erschöpfung, Reizbarkeit, sozialem Rückzug

-          um durch die Reizreduktion Reizüberflutung entgegenwirken [5]

-          um die Überaktivität der Amygdala herunterzufahren (bei Menschen mit PTBS) [6]

Natürlich sehe ich, dass die Implementierung solcher Räume eine (finanzielle) Herausforderung darstellen kann, doch die seelische Gesundheit, die Teilhabe am alltäglichen Leben und das Wohlbefinden ALLER Menschen sollte stets Priorität haben.

Hinsichtlich der (räumlichen) Ausstattung habe ich mir auch Gedanken gemacht:

Ein Ruheraum sollte auch ein safer space sein, weswegen zu dessen Erhalt wahrscheinlich das Einführen von Regeln und möglicherwiese die Präsenz einer sozialen Fachkraft vor Ort wichtig erscheint. Jene Fachkraft wäre dann auch direkt ansprechbar bei Krisen und könnte eine sehr niedrigschwellige Form der Hilfe darstellen. Hinsichtlich der räumlichen Ausstattung habe ich zwei Ideen. A: Ein Snoezelenraum mit bunten Lichtern, Sternenhimmel, wohlriechenden Düften etc.. Allerdings sind das vielleicht zu viele Reize?! Dann würde sich B anbieten: Eine sehr schlichte Einrichtung, mit gedämmtem Licht. Wie der Raum dann im Endeffekt gestaltet wird, würden die Betroffenen / die Nutzer:innen entscheiden.

Nun noch ein paar Sätze zum Status Quo des Projekts:
Gleich zu Beginn des Projekts war ich in der Bürger:innensprechstunde beim Bürgermeister der Stadt Mainz, Nino Haase. Das Ergebnis war: Die Stadt ist pleite, das Projekt sei erstmal nicht finanzierbar. Etwas später kam es zu einem Gespräch mit dem sogenannten Behindertenbeauftragten[7] Bernd Quick der Stadt Mainz. Außerdem habe ich im Behindertenbeirat, genauer im Arbeitskreis Barrierefreiheit und Kultur der Stadt Mainz vorgesprochen. In dem Rahmen bin ich auf die Idee gekommen, dass es alternativ als Notlösung auch möglich wäre, Zertifikate an ruhigeren Orten wie Cafés oder Buchhandlungen anzubringen. Gleichzeitig habe ich eine Petition gestartet, die - Stand jetzt - 487 Unterzeichner:innen hat. Zudem bin ich auf der Suche nach Fördergeldern und Kooperationspartner:innen, sprich: Ich habe Stiftungen angeschrieben und setze mich politisch für die Forderung ein. Es ist außerdem eine Kooperation mit “Wir sorgen gemeinsam” (Kollektiv zum Aufbau von Sorgezentren in Mainz/Wiesbaden) zustande gekommen, wir tragen also das Ziel ‚Ruheräume für die Innenstädte‘ gemeinsam.

Und woher kommt der Ansatz?
Solche Ruheräume und Safer Spaces existieren bereits z.B. auf (Stadt-)Festen, in Kitas, Universtäten, Camps, etc.. Dort sind sie oft Teil der Awarenessarbeit. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, deren Strukturen, also unter anderem das Etablieren von Ruheräumen, auf weitere Bereiche der Zivilgesellschaft zu übertragen. Aber auch dort bestehen solche Ruheräume bereits: zum Beispiel die „Work and Relax Lounge“ im Wiesbadener Luisenforum oder an Flughäfen.

Hier der Link zur Petition: https://www.change.org/p/ruheraum-f%C3%BCr-die-mainzer-innenstadt?recruiter=993160103&recruited_by_id=46158a70-c0f8-11e9-9014-d3111b133860&utm_source=share_petition&utm_campaign=share_petition&utm_term=de_web_gs_ua_sap_20241101_brand_conversions-sap&utm_medium=copylink&utm_content=cl_sharecopy_490412263_de-DE%3A5

Und mein kurzes Erklärvideo:  https://videos.simpleshow.com/K19vPU0hDn


[1] Neurodivergenz bezeichnet ein Konzept, das beschreibt, dass das menschliche Gehirn auf unterschiedliche Weise funktionieren kann – also neurologisch abweicht von dem, was als neurotypisch gilt. Die Verwendung des Begriffs Neurodivergenz ist eine Alternative zu stigmatisierenden, defizitorientierten und pathologisierenden Begriffen, wie Störung o.ä.. Neurodivergenz soll also ausdrücken, dass es sich um Variationen der menschlichen Neurobiologie, handelt. Neurodivergenz umfasst Autismus, ADHS, Legasthenie oder Dyskalkulie, das Tourettesyndrom, Hochsensibilität oder auch Hochbegabung. (Quelle: vgl. Behrendt, C. (2022): Neurodiversität – Die neurologische Vielfalt des Menschen verstehen und fördern, Weinheim: Beltz Verlag.)

[2] Fähigkeiten und Techniken, die erlernt werden, um mit den Symptomen und Belastungen zum Beispiel von Traumafolgestörungen besser umgehen zu können, beispielsweise die Selbstregulation von Anspannung durch einen Nagelball.

[3] Selbststimulierendes Verhalten, also wiederholende Bewegungen oder Laute, die von autistischen Menschen zur Regulierung ihrer Emotionen, zur Verarbeitung von Sinnesreizen oder zur Entspannung eingesetzt werden.

[4] Reaktion auf eine Reizüberflutung, bei der eine Person sich von ihrer Umgebung zurückzieht und nicht mehr ansprechbar ist.

[5] Bis hierher Quelle: vgl. Roth, G. (2011): Bildung braucht Persönlichkeit: Wie Lernen gelingt, Stuttgart: Klett-Cotta.

[6] Quelle: vgl. Fischer, G. & Riedesser, P. (2009): Lehrbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart: Schattauer Verlag.

[7] Ich verwende nicht den Begriff „Behinderte:r“, sondern lieber die Bezeichnung „Menschen, die durch die Gesellschaft behindert werden“, denn das Problem ist nicht der Mensch, sondern die Gesellschaft, die nicht auf diese Person ausgerichtet ist!

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