Care Revolution | Care-Arbeit vergesellschaften. Eine neue Broschüre zu „sorgenden Städten“
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Care-Arbeit vergesellschaften. Eine neue Broschüre zu „sorgenden Städten“

Aktuelles – 01. Juli 2024 – Debatte

Ziemlich druckfrisch, im Mai dieses Jahres, ist bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Broschüre erschienen, die das insbesondere in Spanien und Lateinamerika wirksam gewordene Konzept sorgender Städte vorstellt. Es macht die von Barbara Fried und Alex Wischnewski herausgegebene Broschüre besonders hilfreich für politisch Interessierte, dass sie von Leuten geschrieben ist, die sich selbst auf diesem Feld engagieren. Wir stellen sie vor, damit noch mehr Menschen sie finden und neugierig auf das Konzept werden, aber auch, weil sie aktuell offene Fragen des ‚Sorgende Städte‘-Ansatzes zeigt. Kostenlos bestellbar ist die Broschüre hier: https://www.rosalux.de/publikation/id/52058/care-arbeit-vergesellschaften. Eine erste Orientierung zum Thema findet sich auch auf der Website https://sorgende-staedte.org/, auf der Beiträge aus Stiftungspublikationen zum Thema versammelt sind.

Die Broschüre besteht aus drei Hauptabschnitten. Im ersten Teil erläutern die Autor*innen das Potential des ‚sorgenden Stadt‘-Konzepts. Sie stellen im neoliberalen Kapitalismus die Tendenz einer doppelten Privatisierung fest. Zum einen wurde soziale Infrastruktur wie Pflegeeinrichtungen zum Feld der Kapitalanlage, zum anderen führte der tendenzielle Rückzug des Staates aus den Versorgungsaufgaben zur zunehmenden Belastung der Sorgearbeitenden, zu allermeist Frauen: durch Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in Care-Jobs und indem familiär Sorgearbeitende die entstehenden Lücken schließen mussten. Dies führt zur Überlastung Sorgearbeitender, zu Fachkräftemangel und zur Verschiebung von Care-Aufgaben zulasten der Verwundbarsten in der Gesellschaft.

Dieser doppelten Privatisierung soll nun eine doppelte Entprivatisierung entgegengesetzt werden: Zum einen müssen renditeorientierte Care-Unternehmen durch öffentliche, demokratisch kontrollierte Angebote ersetzt werden, zum anderen soll Raum für kollektive, selbstorganisierte Formen der Sorge geschaffen werden. Weil Sorgearbeit insbesondere Frauen zugeschrieben wird, geht es zugleich um feministische Vergesellschaftung.

Die Broschüre bezieht sich dabei positiv auf das Konzept der revolutionären Realpolitik, das auch der Care Revolution zugrunde liegt: Unmittelbare Entlastung von Menschen in Sorgebeziehungen, Stärkung der Handlungsfähigkeit und ein utopischer Überschuss – wie könnte Sorge bedürfnisorientiert organisiert sein? – sind zugleich Ziele. Um solche Wirkung zu erzielen, müssen Einstiegsprojekte in die sorgende Stadt groß genug dimensioniert sein: Kleine Szeneprojekte sind nicht genug. Letztlich geht es darum, die kapitalistisch gesetzten Grenzen zu überschreiten. Dies erfordert als weiteren Baustein, möglichst viele Menschen aktiv für den Veränderungsprozess zu gewinnen, um die notwendige Stärke zu erhalten, und die Spielräume des lokalen Staates, in dem linke Mehrheiten erreichbar sind, zu nutzen, um entsprechende Infrastrukturen aufzubauen.

Im zweiten Teil werden Beispiele aus verschiedenen spanischen Städten angeführt. Hier finden sich etwa die in Barcelona eingerichteten vilas veïnas („Superblöcke“), in denen zugleich städtische Care-Angebote private Anbieter ersetzen, die Infrastruktur auf Fußläufigkeit ausgerichtet wird und selbstorganisierte nachbarschaftliche Projekte gestärkt werden. Alle vorgestellten Beispiele sind für sich genommen durchaus kapitalismuskompatibel, könnten jedoch durchaus Einstiegsprojekte im oben genannten Sinn sein. Alleine schon die Vielfalt der Ideen ist anregend und es ist gut vorstellbar, wie sie alltagsverändernd und ermächtigend wirken und weitere Veränderungsschritte erleichtern. Allerdings beschreibt der Beitrag auch zwei Bedingungen des Gelingens in Spanien: Erstens gab es ausgangs der Finanzkrise eine starke soziale Bewegung mit Platzbesetzungen, Widerstand gegen Zwangsräumungen und lokaler Organisierung in Komitees sowie, von dort ausgehend, linke lokale Wahlbündnisse, die sich als Teil der sozialen Bewegung und durch diese kontrolliert verstanden. Ob der Weg in die sorgende Stadt ohne diese Voraussetzungen gegangen werden kann – diese Frage wird leider weder beantwortet noch gestellt.

Im dritten Teil, der fast die Hälfte der Broschüre einnimmt, stellt das Kollektiv Raumstation seine Tätigkeit in Berlin-Wedding vor: Ein halbes Jahr lang untersuchten die Aktivist*innen einen Kiez auf unterstützende Care-Infrastruktur hin, führten Gespräche mit den in den Einrichtungen Arbeitenden und beschrieben, welche Bedeutung die Angebote in dem migrantisch geprägten relativ armen Stadtteil haben und welche Hindernisse ihnen dennoch in den Weg gelegt werden. Ergebnis war zum einen eine kritische Kartierung des Kiezes, zum anderen ein Stadtspaziergang, in dem auch Forderungen der Beschäftigten vorgetragen wurden.

Dieser Teil ist eine interessante Ergänzung zu den spanischen Beispielen, indem er zeigt, dass Care-Infrastruktur nicht nur Einrichtungen wie Kitas oder Pflegedienste sind, sondern auch Cafés oder Selbsthilfegruppen. Das Kollektiv hat in seiner Arbeit „nur“ eine solche Kartierung vorgenommen und nicht an der Erfragung des Care-Bedarfs und an der (Selbst-)Organisierung der im Kiez lebenden Menschen angesetzt; zumindest wird das im Text nicht erwähnt. Das macht den Abschnitt nicht weniger nützlich; die Broschüre benennt sich im Untertitel als „Werkzeugkiste“, und das von der Raumstation vorgestellte Werkzeug ist ein spannendes. Hilfreich wäre jedoch eine Einordnung gewesen: Wie lässt sich das Werkzeug von einer Gruppe nutzen, die in dem Sinn, wie der erste Teil der Broschüre den Anspruch formuliert, ein Einstiegsprojekt in die Sorgende Stadt plant?

Gerade unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit hätte ich mich gefreut, wenn das abschließend vorgestellte Projekt ‚Sorge ins Parkcenter‘, an dem zumindest einige der Macher*innen beteiligt sind, mehr Raum erhalten hätte: Hier geht es um das Vorhaben, ein weitgehend leerstehendes Einkaufszentrum in Berlin-Treptow nicht der privateigentümlichen Anschlussverwendung zuzuführen, sondern ein Sorgezentrum nach dem Vorbild der vilas veïnas einzurichten. In Haustürgesprächen, einem ‚Kiosk of Care‘ und offenen Plena wird versucht, die im Bezirk Wohnenden in den politischen Prozess einzubeziehen; die Aktiven in der Initiative wissen: „(Es braucht) tragfähige Allianzen aus Aktivist*innen und Nachbarschaftsinitiativen, aber es braucht auch Verbündete in den Institutionen.“ (S.83) Erfahrungen und Gedanken der Aktiven, ob und wie sich die spanischen Erfahrungen auf Berlin 2024 übertragen lassen, hätten die Broschüre rund gemacht. Aber das lässt sich in Echtzeit, eventuell sogar beim Mitmachen, herausfinden. Die noch im Aufbau befindliche Website findet sich hier: https://www.sorgezentren.de/. Es gibt mittlerweile auch einen überregionalen Zusammenschluss von Sorgezentrums-Initiativen. Hier kommt ihr zu dessen telegram-Gruppe: https://t.me/+YzXMBXL1bJI4ZTMy

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