Interview mit Aktivistinnen von ‚Poliklinik Freiburg – Solidarische Stadtteilgesundheit‘
Initiativen aus einigen Städten, die solidarische Gesundheitszentren bzw. Polikliniken aufbauen wollen, haben sich im Poliklinik-Syndikat zusammengeschlossen. In Hamburg, Berlin und Leipzig existieren solche Gesundheitszentren bereits. In einigen anderen Städten läuft die Aufbauarbeit. Über Ziele, Motivation und die konkreten Schritte sprachen Katharina und Salome von Solidarische Stadtteilgesundheit Freiburg mit Care Revolution.
I: Es geht um das Projekt Poliklinik Freiburg beziehungsweise Solidarische Stadtteilgesundheit. Vielleicht fangen wir damit an, dass ihr kurz etwas über euch sagt.
K: Ich bin Katharina. Ich habe Gesundheits- und Krankenpflege gelernt und auch in dem Beruf gearbeitet und habe dann noch Medizin studiert. Ich habe schon lange eine Frustration im Gesundheitssystem erlebt und bin dann durch verschiedene Organisationen auf die Bewegung der Polikliniken, die solidarische Stadtteilgesundheit, gestoßen. Wir haben uns dann in Freiburg 2019 gegründet.
S: Ich bin Salome. Ich bin ebenfalls Gesundheits- und Krankenpflegerin und Pflegepädagogin. Ich habe von der Poliklinik schon etwa 2016 erfahren, als es in Hamburg die Initiative gab, eine aufzubauen. Dann habe ich eine Broschüre von denen erhalten, und der Ansatz hat mich begeistert. Als ich nach Freiburg gekommen bin, habe ich zu der Poliklinik-Gruppe hier gefunden und bin auch schon seit vielleicht vier Jahren dabei.
I: Du hast gesagt, dass ihr euch als Initiative 2019 gegründet habt. Ist es richtig, dass ihr 2022 so richtig mit einem Projekt im Stadtteil Brühl-Beurbarung gestartet seid?
K: Die ersten Jahre waren vor allem Konzepterarbeitung, Konzeptentwicklung. Anhand des Sozialatlas der Stadt Freiburg haben wir geschaut, in welchem Stadtteil wir uns engagieren. Letztlich wäre es cool, wenn es in jedem Stadtteil eines solidarisches Gesundheitszentrum geben würde. Aber wir haben geschaut, welche Stadtteile prekär aufgestellt sind und haben uns daran orientiert. 2022 haben wir dann in Brühl-Beurbarung angefangen, praktisch zu arbeiten, nicht nur Konzeptarbeit und Recherche zu betreiben.
I: Und ihr habt auch einen Verein gegründet.
K: Wir haben einen Verein gegründet. Mit diesem Verein haben wir gemeinsam mit sieben anderen Städten auch den bundesweiten Verband gegründet, das Poliklinik-Syndikat.
I: Du hast gesagt, dass ihr dahin geht, wo die Situation der Einwohner*innen besonders prekär ist, wo ihr also gebraucht werdet. Aber ihr wollt sicher nicht nur Löcher stopfen. Was ist euer Ansatz, was macht euch als solidarisches Stadtteilgesundheitszentrum aus?
S: Ich möchte sagen, das Konzept, das hinter der Poliklinik steht, das große Ziel, ist, dass wir Gesundheit nicht nur begreifen als: Wenn man krank ist, geht man zum Arzt, und dann wird die Krankheit behandelt. Wir sehen Gesundheit als etwas Ganzheitlicheres, insbesondere, dass man auch die sozialen Determinanten von Gesundheit mitbetrachtet: Was macht Menschen in der Gesellschaft krank, wo kann man ansetzen? Gesundheit hat auf jeden Fall die Komponente, dass Armut krank macht, dass also ärmere Menschen kränker sind und früher sterben, im Schnitt um zehn Jahre, und unter diesen Bedingungen müssen Gesundheit und auch Gesundheitsversorgung anders gedacht werden. Das bedeutet: Man muss insbesondere da ansetzen und aktiv werden, wo die Lebenswelten der Menschen besonders von Prekarität geprägt werden.
K: Oftmals ist es auch so, dass es schon viele Programme gibt, die von der Kommune oder vom Land bezahlt werden. Aber diese erreichen mit ihren Zugängen oftmals die Menschen nicht, die es am dringendsten brauchen. Das wollen wir mit den solidarischen Gesundheitszentren auflösen. Wir wollen also, dass Präventions- und Gesundheitsangebote die Menschen niedrigschwellig erreichen können. Deswegen streben wir auch nach Interdisziplinarität. Das heißt, dass nicht nur die gesundheitliche, hausärztliche oder kinderärztliche, Versorgung existiert, sondern dass sie unter einem Hut ist mit psychosozialer und juristischer Beratung. Denn diese Thematiken sind verzahnt.
S: Ein weiterer Aspekt ist Gemeinwesenarbeit, also die Menschen selbst, die im Quartier leben, mit einzubeziehen. Also partizipatives Herangehen: Nicht nur selbst zu überlegen, was man den Leuten bietet, sondern es mit denen, die es betrifft, zu erarbeiten.
I: Was macht ihr, um die Leute zu erreichen?
K: Wir haben mit einer Befragung im Stadtteil angefangen. Die Fragebögen sind auch im dreistelligen Bereich zurückgekommen, weil wir die Teilnahme vergüten konnten, Wir haben ihn in verschiedenen Sprachen ausgegeben und ihn in allen möglichen Orten in Brühl verteilt, aber auch in Briefkästen, im Stadtteilbüro der Quartiersarbeit usw. Wir haben gefragt, welche Ressourcen es gibt, aber auch, was die Menschen fühlen. Konkret wurde in Brühl oft Einsamkeit als wichtiger Aspekt genannt. Das spiegelt sich auch in dem, was der Sozialatlas zeigt, dass dort etwa viele Alleinerziehende wohnen. Nach der Befragung kommt dann der nächste Schritt, was die Partizipation angeht: Multiplikator*innen. Da gibt es ein paar verschiedene Konzepte und Herangehensweisen, wie man es schafft, im Stadtteil Menschen zu finden, die man als Multiplikator*innen sieht. Da gibt es ja den Begriff der Gesundheitslots*innen, also Menschen, die in ihrer Community ein wenig durch das System lotsen können, eine bestimmte Kompetenz haben, Sachen zurückmelden können. An diesem Ansatz sind wir gerade dran. Das macht natürlich etwas mehr Arbeit: Ein partizipativer Ansatz ist immer zeitintensiver, weil es Gespräche braucht, damit eine Vertrauensbasis entsteht. Wir wollen nicht paternalistisch in den Stadtteil gehen und denken „Ihr braucht das und das und das machen wir jetzt.“ Sondern unser Ziel ist, dass das aus dem Stadtteil heraus benannt wird.
S: Wir haben im Rahmen der Bedarfserhebung eine Befragung der Bevölkerung durchgeführt, wir haben aber auch eine Art runden Tisch organisiert mit – wir haben sie Expert*innen genannt – Menschen, die im Rahmen ihrer beruflichen Arbeit, aber auch ihres ehrenamtlichen Engagements im Stadtteil Brühl-Beurbarung aktiv sind. Wir haben sie an einen Tisch gebracht und versucht, mit ihnen herauszuarbeiten, was aus der Sicht derer, die z.B. als Hausärzt*innen oder bei der AWO Arbeitende im Stadtteil eingebunden sind, die Bedarfe der Bevölkerung sind. Und wir haben auch gefragt: Wie könnten wir auf die Menschen im Stadtteil zugehen, was ist aus Perspektive der am runden Tisch Teilnehmenden dabei wichtig?
I: Das klingt nach einem langen Atem, den ihr braucht. Ist denn schon ein Erfolg zu sehen, dass etwa Leute auf euch zugehen oder dass sie Selbstbewusstsein zum Beispiel im Umgang mit Behörden entwickeln?
K: Wir merken auf jeden Fall, dass wir im Stadtteil bekannter werden und die Menschen uns so langsam auch als Gruppe wahrnehmen. Wir haben mit Beratungsangeboten begonnen, die wir aufsuchend gestalten, und haben da auch das Gefühl, dass wir als Gruppe wahrgenommen werden, dass eine Vertrauensbasis entsteht und dass die Treffen bisher auch ganz gut angenommen werden. Wir haben auch initiiert, dass ein Eltern-Kind-Café entsteht, vor allem für Alleinerziehende. Das wird ab Anfang Mai stattfinden. Das ist eben ein sehr, sehr langer Weg. Wenn wir versuchen, die Bewohner*innen im Stadtteil einzubeziehen, kann das nur langsam gehen. Das können wir nicht von außen aufstülpen. Es ist auch ein interkultureller Brunch geplant. Dort entwickeln sich vielleicht auch noch einmal Gespräche. Das ist auch etwas gegen die Einsamkeit, ein Versuch, die Nachbarschaft zusammenzubringen.
I: Das heißt, dass ihr auch mit halbstaatlichen Stellen wie dem Quartiersbüro zusammenarbeitet. Ist das eine gute Zusammenarbeit oder auch konfliktbehaftet?
K: Die Zusammenarbeit war wirklich von Anfang an sehr gut. Wir hatten unsere Fühler auch in andere Stadtteile ausgestreckt und in Brühl war es mit dem Nachbarschaftswerk und dem Quartiersbüro von Anfang an eine so gute Zusammenarbeit. Das ist schon sehr gut.
I: Aber letztlich wollt ihr schon eigene Räume und einen Kassensitz und all das haben?
S: Es gibt langfristige und kurzfristige Ziele. Das langfristige Ziel ist, die Poliklinik als Stadtteilgesundheitszentrum zu haben, wo auch unterschiedliche Berufsgruppen arbeiten und das ganze Projekt umgesetzt werden kann. Das ist nach wie vor das, wo wir langfristig hinwollen. Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die Poliklinik als Gesamtprojekt sehr lange dauert und dass auch viele verschiedene Aspekte hier eine Rolle spielen. Wir wollen jetzt schon anfangen, aktiv zu sein, so dass sich alles organisch entwickeln kann. Die Poliklinik aufzubauen, ist etwas, was parallel dazu passiert.
K: Es ist auch so, dass wir eine bundesweite Bewegung sind. Es sind mittlerweile 12 oder 15 Städte in Deutschland, in denen es eine Gruppe gibt. Leipzig, Berlin und Hamburg haben bereits ein Zentrum, in dem sie schon arbeiten, Dresden ab Mai auch. Dadurch kann man ein bisschen sehen, wo es hingehen soll, man kann auch voneinander lernen; das ist sehr vorteilhaft. Wir lernen auch insgesamt als Bewegung voneinander. Daran kann man sich gut festhalten, weil man so etwas wie einen roten Faden hat und weiß: Die Schritte, die wir jetzt machen, sind sinnvoll und können zum Ziel führen.
I: Vielleicht ist es eine blöde Frage, weil es für euch so selbstverständlich ist: Das Ganze klingt nach einem Prozess, der zäh ist, der prekär ist in dem Sinn, dass man nicht weiß: Klappt es oder scheitert es. Was ist es, das euch und Menschen in so vielen Städten dazu bringt, dabeizubleiben?
K: Für mich ist es in jedem Fall auch die bundesweite Bewegung. Es war gerade am Wochenende das Gesamttreffen in Dresden, und es waren 100 Menschen da. Es sind acht Gruppen, die offiziell im Verband sind, und drei neue, die als Probemitglied aufgenommen werden. Es ist etwa cool zu sehen, dass Berlin mittlerweile 43 entlohnte Stellen im Zentrum hat, dass es also, genau wie in Hamburg, mittlerweile entlohnte Arbeit ist. Der Versuch ist natürlich immer, alle Berufsgruppen ohne Lohngefälle zu entlohnen: Alle verdienen das gleiche oder nach Bedarf – da gibt es unterschiedliche Konzepte. Das ist auf jeden Fall etwas, was mich total überzeugt, weil ich sehe, wie gut es funktionieren kann und was es auch für einen Unterschied im Stadtteil ausmachen kann, wenn es so ein Zentrum gibt. Auch bei uns in Freiburg: Es ist im letzten halben bis ganzen Jahr so viel entstanden und sind so viele gute Rückmeldungen aus dem Stadtteil gekommen. So habe ich das Gefühl, dass wir anfangen etwas zu verändern in die Richtung, dass Brühl-Beurbarung ein solidarischer Stadtteil wird.
S: Ich möchte auch die Notwendigkeit solcher Zentren erwähnen, dass sie also gebraucht werden. Wir haben auch in Deutschland ein Problem mit sozialer Ungleichheit und die bestehenden Gesundheitsstrukturen schaffen es nicht ausreichend, dem zu begegnen. Und ich sehe nicht, dass sich daran etwas ändert, wenn man es nicht selber macht. Da ist für mich das Konzept der Polikliniken und die Idee, die dahintersteht, der andere Blick auf Gesundheit, einfach ein Gegenentwurf, den man aufbauen muss.
I: Wenn jetzt Leute das Interview lesen und Lust bekommen, auch anzufangen – würdet ihr ihnen Tipps mitgeben können?
S: Wir würden sagen: Kommt auf jeden Fall vorbei! Wir sind eine sehr offene Gruppe und freuen uns immer über Menschen, die Interesse an unserer Arbeit haben und die das Interesse haben, selber aktiv mitzuwirken. Man braucht sich nicht davon abschrecken zu lassen, dass es um den Themenbereich Gesundheit geht. Es ist nicht Voraussetzung, dass man selbst im Gesundheitsbereich tätig ist oder eine entsprechende Ausbildung hat. Ganz egal, wo man beruflich herkommt, es ist anschlussfähig, was wir in unserer Gruppe machen, weil es eben auch sehr viele Bereiche abdeckt.
K: Leuten in einer anderen Stadt würde ich auf jeden Fall raten, sich bei einer der geographisch nächsten Gruppen zu melden. Wir haben tatsächlich auch bundesweit ein Buddy-System, so dass man neue Gruppen unterstützen kann, wenn es um Vereinsgründung oder Gemeinnützigkeit geht oder darum, wie man anfängt und startet. Das Unterstützungssystem funktioniert tatsächlich sehr gut; es geht auch innerhalb der Bewegung sehr solidarisch zu. Es ist so aufgebaut, dass viel Wissenstransfer stattfindet und dass man eine gemeinsame Plattform hat, auf der man sich austauschen kann.
I: Schönen Dank!