Care Revolution | Sorge ins Zentrum einer Alternative zum Kapitalismus
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Sorge ins Zentrum einer Alternative zum Kapitalismus

Aktuelles – 19. Oktober 2018 – Debatte, Debatte
Beitrag in der Reihe Perspektiven vom Autor_innenkollektiv Werkstatt Care Revolution (Text als PDF)
Dieser Text ist aus der Werkstatt, die das Netzwerk Care Revolution einmal jährlich in Buchenbach durchführt, in Gemeinschaftsarbeit entstanden. Wir freuen uns über Reaktionen auf unser Papier.
Erreichbar sind wir als Autor_innenkollektiv unter care-revolution@riseup.net.
Stand: 5.Juli 2017
  Unter dem Begriff der Care Revolution entstand in den letzten Jahren eine Bewegung, die Sorgetätigkeiten zum Ausgangspunkt für gesellschaftliche Transformation nimmt. Unter Sorge – dieses Wort verwenden wir synonym zu Care – verstehen wir beispielsweise Pflegen, Trösten, Kochen, Betreuung oder Beratung, kurz gesagt all jenes, womit sich Menschen um das Wohlergehen und die persönliche Entwicklung anderer Menschen oder auch der eigenen Person (Selbstsorge) kümmern. Sorge ist von zentraler Bedeutung, denn eine soziale und solidarische Gesellschaft lebt vom Bezug der Menschen aufeinander. 1. Sorge hat im Kapitalismus keinen Platz Die Hamburger Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker sprach nach 2007 von sozialer Reproduktion in der Krise. Sie kritisierte die damals aktuelle Debatte um die Ursachen und Folgen der Finanzkrise, die Krise ausschließlich auf Banken, Märkte oder den Euro bezog. Stattdessen betonte sie, dass, um die Kapitalverwertung zu sichern, die Löhne und die staatlichen Sozialausgaben gesenkt wurden und damit vielen Menschen Zeit und/oder Geld für Sorgetätigkeiten fehlen. Denn Neoliberalismus als Dreiklang aus Liberalisierung, Privatisierung und Sparpolitik führt zu einer doppelten Privatisierung von Sorgetätigkeiten: Einerseits setzt sich im Neoliberalismus die Übertragung ehemals öffentlicher Pflege- und Betreuungsaufgaben an renditeorientierte Unternehmen immer weiter durch. Andererseits bewirken damit einhergehende steigende Kosten für die einzelnen Menschen aufgrund dieses staatlichen Rückzugs, dass insbesondere Frauen sich verstärkt privat um die Betreuung, Hege und Pflege ihrer Kinder und älteren Angehörigen kümmern. Wo Sorgetätigkeiten zur Ware werden, ist dies in der Regel verbunden mit für Beschäftigte nicht selbstbestimmt gestaltbaren flexiblen Arbeitszeiten und schlechter Entlohnung. Darüber hinaus bewirken neoliberale Politiken eine generelle Umverteilung zugunsten der ohnehin schon Reichen und zulasten von Lohneinkommen und staatlichen Transferleistungen. Gleichzeitig kommt es aufgrund des Wachstumszwangs zu einer umfassenden Einbeziehung aller Bereiche in die Profitlogik; eine der Folge ist die Zerstörung von Commons im Globalen Süden, also von Wäldern, Fischgründen, Weideflächen usw. als Grundlage für traditionelle Möglichkeiten einer Existenzsicherung ohne Marktbeziehungen (Subsistenz). Die jüngste Zahl von Oxfam, wonach 2016 acht Männer über so viel Vermögen verfügten wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, ist nur ein extremer Ausdruck dieser Ungleichverteilung. Doch das Problem heißt nicht nur Neoliberalismus. Die im Kapitalismus strukturell un- oder schlecht bezahlte Care-Arbeit ist der Nährboden für privatisierten Profit. Von der Subsistenztheoretikerin Maria Mies stammt ein in der feministischen Ökonomie oft verwendetes Bild, wonach die sichtbare Ökonomie, also die über Warenproduktion und Geld vermittelte Wirtschaft, nur die aus dem Wasser ragende Spitze eines Eisbergs darstellt, während der größere Teil des Eisbergs, bestehend aus der unentgeltlichen Nutzung von Sorgetätigkeiten, Naturressourcen und (vor allem im Zuge postkolonialer Ausbeutung) Subsistenzarbeit, ohne Gegenwert in den Profit einfließt. Aber auch bei der Kritik am Kapitalismus kann nicht stehen geblieben werden – denn ein großer Teil seiner Negativfolgen liegt bereits in der Tauschlogik selbst begründet: Die Vorstellung, gleiche Werte tauschen zu können, wird immer nachteilig für diejenigen sein, die wenig oder nichts zum Tausch anzubieten haben. Die begrenzte Rationalisierbarkeit und damit die bei Sorgearbeit hohe Bedeutung von Niedriglöhnen für die Profitabilität führten historisch immer dazu, dass diese an unterprivilegierte Bevölkerungsteile ausgelagert wurde. Hierdurch wesentlich begünstigt wurde eine gesellschaftliche Sphärenspaltung in eine männlich konnotierte Produktion und eine weiblich zugeschriebene Reproduktion. Wer verstehen und beschreiben will, wie eine Gesellschaft sich organisiert, muss sie als Ganzes in den Blick nehmen. Es gilt, auch danach zu fragen, wie Menschen die Arbeit der Reproduktion organisieren und verteilen – eine Frage, die allzu oft aus der Analyse ausgespart wird. So wird dieses Feld unsichtbar gemacht, seine Geschichtlichkeit und Kontextabhängigkeit werden negiert und die hier herrschenden Arbeitsteilungen als quasi natürlich und gegeben erklärt. Dies wiederum geht mit der Entwertung all derjenigen Sorgetätigkeiten einher, die kein Einkommen generieren. Dabei ist wichtig, auch das aktive Mittun der jeweils von der Reproduktion Freigestellten mitzudenken, also von Männern gegenüber Frauen, aber auch von Weißen gegenüber Schwarzen oder, wie heute zunehmend, von Menschen mit einem Pass, der 'mehr wert' ist als jener von Migrant_innen in internationalen Sorgearbeitsketten. Dies ist etwa der Fall, wenn zum Beispiel hierzulande 'günstig' Polinnen für Pflegearbeit eingestellt werden und diese darum ihre eigenen Kinder anderen Frauen aus noch weiter östlich liegenden, ärmeren Ländern überlassen. Auch wenn in Haushalten insbesondere Frauen tätig sind, sind auch gegenläufige Prozesse zu beobachten, wenn zum Beispiel Migranten männlichen Geschlechts aufgrund fehlender anderer Jobgelegenheiten hierzulande Putztätigkeiten übernehmen. Mit dieser vergeschlechtlichten, rassifizierten und/oder klassistischen (also Schichtunterschiede ausnutzenden) Arbeitsteilung geht aber nicht nur einfach die Zuweisung schlecht oder nicht entlohnter Arbeit an Menschen einer bestimmten Identitätskategorie einher. Zugleich werden solche Identitätskategorien häufig erst in diesem Prozess geschaffen. Der in diesem Prozess ebenfalls erst entstandene Nationalstaat ist zutiefst funktional für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus. Dem Staat kommt dabei die Aufgabe zu, die allgemeinen Produktionsbedingungen zu sichern. Dazu gehört auch, die Folgen einer Wirtschaftsweise abzumildern, die sich allein am Profit orientiert. Sogenannte sozialstaatliche Errungenschaften sind nicht selbstverständlich und es gilt sie zu verteidigen; sie sind in harten Kämpfen erstrittene Zugeständnisse und Kompromisse. Gleichwohl: Sie dienen letztendlich der Befriedung von Konflikten. Dem Sozialstaat wohnt zudem eine disziplinierende Funktion inne. Wer Leistungen in Anspruch nimmt, muss ordentlicher Staatsbürger sein, Regeln befolgen, sich einem bestimmten Geschlechterregime unterwerfen usw. Solche Entscheidungen werden auch in der Zivilgesellschaft verhandelt. Doch letztlich gilt auch hier: Wer ohnehin schon systematisch privilegiert ist, verfügt auch über mehr und machtvollere Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Dazu kommt, dass Widerstände vielfach integriert werden, auch indem emanzipatorisches Begehren aufgegriffen wird und sich Subjektformen entsprechend entwickeln. So erhöht die gelungene Selbstverwirklichung den Marktwert, und wir tragen längst nicht mehr nur unsere Haut zu Markte, sondern auch unsere Persönlichkeit, unsere Interessen und unsere Kreativität. Unsere Fähigkeit, uns zu verbiegen, ohne zu brechen (Neusprech: Resilienz), psychisch stabil zu bleiben sowie rasch zu regenerieren, sind Voraussetzungen unserer Beschäftigungsfähigkeit´. Auch in diesem Sinne sind wir angerufen, uns permanent zu optimieren. In neoliberalen Verhältnissen scheinen uns diese Zumutungen zum eigenen Bedürfnis zu werden. Diese Form des als Entfremdung beschreibbaren Zusammenhangs wird in der Care-Arbeit am offensichtlichsten. Der Zwang zur Konkurrenz untereinander verhindert, sich entlang der eigenen Werte, Bedürfnisse und Fähigkeiten einzubringen. So wie es heute aus finanziellen Gründen vielfach nicht möglich ist, biologische Lebensmittel anzubauen, auch wenn es jemand leidenschaftlich gerne tut, so bedroht es häufig akut die eigene Existenzsicherung und bedeutet für viele Frauen Altersarmut, wenn sie über Monate und Jahre hinweg die eigene Mutter pflegen. Insgesamt können wir festhalten, dass die gegenwärtige grundlegende Überforderung von Menschen besonders dort, wo es um Sorge und Sorgebedürftigkeit geht, kein Ausdruck je individuellen Versagens ist. Die Möglichkeit gelingender Sorgebeziehungen und gelingender Selbstsorge ist systemisch beeinträchtigt. Gelingende Sorge und allgemein gutes Leben erfordern andere ökonomische Beziehungen und eine andere Produktionsweise. Erforderlich ist eine Gesellschaft ohne äquivalenten Tausch, organisiert nach Bedürfnissen und Fähigkeiten. 2. Eine gesellschaftliche Alternative ist denkbar Wir stellen uns eine Welt vor, in der vielfältige, gerade auch kollektive Lebensformen und Versorgungseinrichtungen Sorge und Selbstsorge erleichtern. Dafür müssen wir neue Formen erfinden oder alte erinnern. Ebenso gilt es, den Blick in andere Regionen der Welt zu richten: Die Erfahrungen von Gemeinschaftshäusern, Waschküchen und Dorfäckern enthalten ebenso wichtige Impulse für ein ganz anderes Ganzes wie die Diskussionen um Commons, Open Source und Gemeinschaftsgärten. Auch gilt es Ziele, Gegenstände und Methoden von Geschichts- und Sozialwissenschaften neu und anders zu justieren. Nicht von ungefähr wissen wir mehr über Kriege und Königshäuser als über die Geschichte des Wäschewaschens. Auch Architektur muss dahingehend untersucht werden, inwiefern sie kollektive Sorgearbeiten und Kollektivität generell ermöglicht oder verunmöglicht. Eine neue, fürsorgliche Ethik und ein Bewusstsein dafür, dass wir alle bedürftige Wesen sind, können sicher helfen, eine solidarische Gesellschaft aufrecht zu erhalten, aber sie können nicht ihre Grundlage sein. Vielmehr geht es darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen es Menschen leichter fällt, sich achtsam auf Andere zu beziehen. Dafür ist es notwendig, Sorge und Solidarität als Strukturprinzipien zu begreifen. Es gibt verschiedene Vorschläge, wie diese Rahmenbedingungen aussehen können. Sie alle laufen darauf hinaus, die Konflikte, die im Moment durch Ökonomie, Staat und Recht im Sinne der Kapitalverwertung gelöst werden, wieder als gesellschaftliche Fragen zu begreifen und gemeinsam auszuhandeln:
  • Wie wollen wir entscheiden?
  • Was soll produziert werden?
  • Wie gehen wir damit um, wenn nicht alle Bedürfnisse erfüllbar sind?
  • Wie wird die Arbeit konkret verteilt?
Wir können keine Blaupause dafür vorlegen, wie diese Fragen entschieden werden. Stattdessen möchten wir grob umreißen, in welche Richtung die Reise gehen soll. Entscheidung mit allen zusammen möglichst direkt und dezentral treffen Entscheidungen müssen so getroffen werden, dass alle, die sie betreffen, gleichberechtigt einbezogen werden. Gleichzeitig müssen die Bedürfnisse derer, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht an der Entscheidungsfindung teilhaben, im Blick bleiben. Klar ist, dass dies durch große Strukturen wie im Parlamentarismus nicht möglich ist. Stattdessen müssen Entscheidungen möglichst direkt und dezentral getroffen werden. Ob wir das demokratisch nennen oder neue Begriffe finden, ist nicht so wichtig wie die konkreten Aushandlungsformen, die alle Menschen unabhängig von Ethnie, Geschlecht, sexueller Orientierung etc. tatsächlich einbeziehen. Befriedigung von Bedürfnissen ermöglichen Ein wichtiger Teil der Entscheidungsfindung wird sich um die Frage drehen, was und wie produziert wird. Auch in einer postkapitalistischen Gesellschaft werden Menschen Häuser bauen, Nudeln kochen und Bücher schreiben. Allerdings werden die Dinge als Mittel der Bedürfnisbefriedigung hergestellt und nicht wie in der kapitalistischen Gesellschaft als Träger von Wert zur Kapitalverwertung. Ebenso finden die Tätigkeiten nicht mehr in einer entfremdeten Form statt, bei der es eigentlich egal ist, was man unter welchen Rahmenbedingungen tut. Statt dem Credo „Hauptsache Arbeit“ zu folgen, ist die Produktion so geregelt, dass es für alle möglich ist, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Dabei hat Marx einen wichtigen Teil der Ökonomie vergessen: In unserer Utopie stehen in deren Zentrum die Bereiche, in denen es um die direkten Bedürfnisse von Menschen geht. Diese Bedürfnisse beinhalten gerade auch das Zustandekommen und die Ergebnisse von Sorgebeziehungen. Oberster Zweck der Ökonomie muss sein, dass alle Menschen Zugriff auf die Mittel haben, die ihnen Bedürfnisbefriedigung ermöglichen. Das schließt aus, dass Betriebe, Häuser und andere Mittel zur Bedürfnisbefriedigung in privatem Eigentum sind. Gerade auch in der Sorge kommt es darauf an, Kontinuität und Verlässlichkeit sicherzustellen. Bedürfnisse zum Thema machen Unsere Utopie einer solidarischen Gesellschaft hält es aus, wenn Strategien der Bedürfnisbefriedigung nicht harmonisieren. Wir werden andere Wege finden, damit umzugehen, als dies in gegebenen Verhältnissen der Fall ist. Es geht um neue Strukturprinzipien, andere Formen von Konfliktlösungen und nicht um den Garten Eden. Beim Aushandeln konkreter Vorhaben kann weder Konsumverzicht noch Luxus für alle die Ultima Ratio sein. Vielmehr muss ständig ausgehandelt werden, was unter welchen Bedingungen unter Einbezug der gesellschaftlichen und ökologischen Folgen hergestellt wird. Es gilt also offene Fragen zu formulieren: Welche Bedürfnisse können erfüllt werden? Welche sind wichtiger als andere? Nutzen wir unser pharmazeutisches Wissen, um Durchfall zu lindern, auf der Rangliste weltweiter Todesursachen auf Platz 5, oder um die 500. Antifaltencreme zu entwickeln? Stecken Ingenieurinnen ihre Kraft in schnelle Autos und immer kleinere Computer oder geht es erst mal darum, allen Menschen sauberes Wasser zur Verfügung zu stellen? In einer solidarischen Gesellschaft stellt sich die Frage, was eine Gesellschaft an Gütern vorhält, vor einem anderen Hintergrund: Wenn niemand gezwungen werden kann, in einer Produktionskette mitzuwirken, die nur klappt, weil Menschen unter miesen Bedingungen dafür vernutzt werden, wird sich der Wunsch nach billigen Textilien und 2-jährigem Handy-Wechsel schnell erledigen. Fülle und Mangel bekommen eine ganz andere Dimension, wenn die ökologischen und sozialen Folgekosten einer Produktionskette mit in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Das bedeutet konkret: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Beteiligten müssen in die Diskussion einbezogen werden, wenn entschieden wird, ob und wenn ja, wie täglicher Kaffeekonsum für alle gewährleistet werden kann. Arbeit ohne Zwang gestalten Weitergedacht stellt sich die Frage nach der Verwendung unserer Zeit. Die Besichtigung, Neudefinition, Umverteilung und Demokratisierung gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten bedarf eines anderen Zeitregimes, das ausreichend Raum lässt für politische Einmischung, gemeinsames Lernen und persönliche Entwicklung und nicht zuletzt dafür, für sich und andere zu sorgen. Dazu gehört auch, dass das Auskommen und basale soziale Rechte für alle gesichert sind. Häufig folgt hier der Einwand, wie ohne Arbeitszwang sichergestellt werden kann, dass solche Strukturen funktionieren. Heute werden Menschen gezwungen, das zu tun, was für die Wirtschaftsweise sinnvoll ist. Alle müssen Erwerbsarbeit leisten, um ihre Existenz zu sichern. Wer mit einer schlechten Ausgangslage auf den Arbeitsmarkt kommt oder einfach nur Pech hat, muss am Ende die unangenehmen, gefährlichen und zudem schlecht bezahlten Arbeiten erledigen. Wir stellen uns eine solidarische Gesellschaft ohne Zwang vor, in der die gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten in einer Weise erledigt werden, die für alle Beteiligten angemessen ist. Diese abstrakte Bestimmung enthält den Wunsch, dass nicht am Ende die, die am meisten unter einem Mangel leiden, dafür verantwortlich sind, ihn zu beseitigen, sondern Menschen gemeinsam einen Modus finden. Es ist kaum möglich, schon jetzt zu erahnen, wie sich Bewertungen verschieben und auch wir und unsere Strategien der Bedürfnisbefriedigung sich auf dem Weg zu einer solidarischen Gesellschaft verändern werden. Vielleicht werden dann andere oder auch gar keine notwendigen Arbeiten mehr unbeliebt sein, wenn Arbeit nicht mehr unter entfremdenden Rahmenbedingungen stattfindet? Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, sind wir zuversichtlich, dass Lösungen gefunden werden, wenn sich die Gesellschaft entscheidet, nach ihnen zu suchen, statt den Löwenanteil der Produktivität in die Entwicklung der Destruktivkräfte von Verwertung, Tod und Vernichtung zu stecken.   3. Menschen als bedürftige und soziale Wesen können eine solidarische Gesellschaft gestalten Die Frage, ob eine solidarische, sorgsame Gesellschaft möglich oder auch nur denkbar ist, ist untrennbar verknüpft mit der Frage, was das Mensch-sein ausmacht und welche Möglichkeiten uns innewohnen. Diese Fragen sind leidenschaftlich umkämpft, und die Geschichte zeigt, dass nicht selten vermeintliche wissenschaftliche Wahrheiten aus dem Feld der Soziobiologie, Medizin, Psychologie, Geschichtswissenschaft usw. herangezogen werden, um Herrschaft und Ausbeutung als ´natürlich´ zu legitimieren. Insbesondere in der abendländischen Philosophie wird der Mensch als autonom, von anderen strikt geschieden und völlig unabhängig konzipiert. Die Natur und selbst der eigene Körper werden als ihm – nicht von ungefähr hier männlich gesprochen – äußerlich gedacht, als Gegenüber, das gezähmt und diszipliniert, in Besitz genommen, geplündert und verkauft werden kann. Wir sind dagegen davon überzeugt, dass wir körperliche Wesen sind, verletzlich, bedürftig und miteinander verbunden. Die Menschheitsgeschichte lässt sich nicht allein als Geschichte der Werkzeugherstellung lesen oder gar als Ergebnis erbittert ausgetragener Konkurrenz, ständiger Zweck-Nutzen-Optimierung und Durchsetzung des Stärkeren. In viel höherem Maße ist die Geschichte der Menschheit eine von Kooperation und Empathie. Von klein auf sind wir in der Lage, die Gefühle anderer zu lesen und uns in anderen wiederzuerkennen. Neuere Deutungen der Frühgeschichte, z.B. von Sarah Blaffer Hrdy, stellen die kollektive Kinderaufzucht als frühes Faktum und wichtige Überlebensstrategie in den Mittelpunkt. Diverse Studien belegen, dass Menschen, die sich sozial engagieren, daraus Sinn, Lebensfreude und mithin eine höhere Lebenserwartung beziehen. Ebenso gibt es Belege dafür, dass Menschen glücklicher und zufriedener, angstfreier und vertrauensvoller empfinden, je egalitärer die Gesellschaft verfasst ist, in der sie leben, und dass materieller Zuwachs, sofern er Ungleichheiten vergrößert, nicht glücklicher macht. Mögen wir in kapitalistischen Verhältnissen auch in strukturelle Konkurrenz gegeneinander gestellt sein: Jeden Tag sehen und erleben wir, dass Menschen in den Anliegen anderer auch ihre eigenen erkennen. Dies ist Voraussetzung echter Solidarität, die mehr ist als Hilfe im karitativen Sinne. Vielerorts sehen wir Menschen, die anders miteinander leben, gestalten, beitragen, füreinander sorgen, miteinander tätig sein und mit Zuversicht in die Zukunft sehen wollen – Bedürfnisse, die sich durch Konsum und Status allein nicht kompensieren lassen. Gleiches gilt für die Bedürfnisse nach Anerkennung, Sicherheit sowie nach selbstbestimmter Zeit. Zahlreiche Werbespots suggerieren, dass Freiheit, Einflussnahme, Anerkennung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung per Kauf- und Konsumentscheidungen zu erlangen seien. Auch für politische Projekte, wie die Prekarisierung der Lohnarbeit, wird mit aus den sozialen Bewegungen entlehnten Begriffen wie Freiheit und Selbstbestimmung geworben. Auf diese Weise wird unser emanzipatorisches Begehren adressiert, mit dem Effekt, es zu kanalisieren, zu bändigen und seine Widerständigkeit still zu stellen. Allerorts machen und reflektieren Menschen die Erfahrung, dass diese Wünsche und Bedürfnisse auf solche Weise und in den gegebenen kapitalistischen Verhältnissen, also systembedingt, allenfalls defizitär, prekär oder nur für wenige realisierbar sind. Entsprechend erleben immer mehr Menschen, dass das, was sie einander an Engagement, Wissen und Können zu geben haben, auf dem Markt nicht gebraucht, nicht anerkannt oder gering geschätzt wird, dass ihr Einkommen zum würdevollen Leben nicht ausreicht oder sie als Überflüssige ausgeschlossen und zum Gegenstand staatlicher Disziplinierung werden. Es besteht also ein immenser Widerspruch zwischen den gegenwärtigen Verhältnissen einerseits und andererseits dem, wie Menschen ihre Potenziale nutzen und ihre Bedürfnisse befriedigten könnten. Aus diesem Widerspruch und dem Widerstand, den er hervorruft, beziehen wir Hoffnung. Hoffnung macht uns auch, dass das kollektive Wissen und die technischen Möglichkeiten vorhanden sind, auf die sich eine andere Produktionsweise stützen könnte. Beispielsweise wäre ökologischere Mobilität für alle möglich. Es könnte überall ausreichend guter Wohnraum, auch für Lebensweisen jenseits isolierter Kleinfamilien, geschaffen werden. Technologische Entwicklungen könnten ermöglichen, dass dezentral, in geschlossenen Stoffkreisläufen und Informationen umfassend teilend produziert wird. Die stofflichen Möglichkeiten dafür, dass die Bedürfnisse aller befriedigt werden können, sind weitgehend gegeben. Wird Wissen geteilt, wird es mehr, nicht weniger. 3D-Drucker ermöglichen vielleicht schon bald die Produktion auf den lokalen Bedarf zugeschnittener Güter vor Ort und verkürzen Transportwege. Auch erneuerbare Energien könnten weitestgehend vor Ort erzeugt und genutzt werden. Eine zentrale Planung wäre zumindest in viel geringerem Maß erforderlich, als dies noch vor zehn oder zwanzig Jahren vorstellbar war. Es geht uns nicht darum, zu behaupten, dass dank technologischen Fortschritts hier und heute oder auch nur in absehbarer Zeit alle Probleme zu lösen und alle Bedürfnisse zu befriedigen wären. Es geht uns vielmehr darum zu fragen, was möglich wäre, wenn wirklich demokratisch verhandelt würde, wohin die technologische Entwicklung und unsere kollektiven geistigen Ressourcen zu lenken sind. Kurzum: Was wäre, wenn nicht der Profit, sondern menschliche Bedürfnisse und ein solidarisches Gemeinwesen maßgebend wären? Hoffnung machen uns weiter die Bewegungen, die nach Wegen eines solidarischen Miteinanders suchen und den Irrsinn eines Systems vorführen, das zwangsläufig den Fortbestand des Planeten gefährdet. Nur exemplarisch nennen wir die Bewegungen für Klimagerechtigkeit, für soziale Rechte für alle, für Frieden und globale Solidarität, für die gemeinsame und selbstorganisierte Nutzung von Gütern und Ressourcen (Commons), nicht zuletzt die feministische Bewegung. Hoffnung machen uns jene Initiativen, die die kapitalistische Logik direkt angreifen und z.B. an den Universitäten einfordern, die eigenen Glaubenssätze auf den Prüfstand zu stellen, sowie all jene, die für die Demokratisierung aller Lebensbereiche streiten. Dabei wissen wir, dass ein gemeinsames Projekt nicht von sich aus gegeben, sondern mühsam und lustvoll erst noch und permanent zu erarbeiten ist: Wir hoffen auf Bündnisse jener Kräfte, die sich für eine solidarische Gesellschaft und Ökonomie einsetzen, um Kräfteverhältnisse gemeinsam zu verschieben. Hoffnung machen uns schließlich Initiativen und Projekte, in denen Menschen bereits hier und heute versuchen, nach anderer Logik zu leben, zu handeln und zu wirtschaften. Solche Projekte sind Orte gemeinsamen Lernens, in denen Menschen sich durch ihr Tun und dessen Reflektion verändern und ihre Fähigkeit, sich gemeinsam zu organisieren, weiter entwickeln können. Gleichwohl existieren diese Projekte nicht im luftleeren Raum, sie stoßen stets an systemische Grenzen und sind in ihrer Reichweite notwendigerweise begrenzt. Sie laufen nicht selten Gefahr, für neoliberale Zwecke vereinnahmt zu werden. Dennoch zeigen sie den wachsenden Wunsch, sorgsam und nicht konkurrierend miteinander umzugehen. Es ist dieser Wunsch, der unsere Hoffnung nährt. Besonderes Potential sehen wir in jenen Projekten, die Selbstorganisation und Eigentumsfrage miteinander verbinden und zudem danach streben, sich zu vernetzen, um ihre politische Sichtbarkeit und Wirksamkeit zu erhöhen. 4. Kämpfe um Sorge sind der Einstieg in eine solidarische Gesellschaft In diesem Abschnitt möchten wir darstellen, weshalb die Sorge füreinander unserer Ansicht nach eine so herausragende Bedeutung für die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft hat. Zum einen geht es uns dabei um Veränderungen im Care-Bereich selbst, zum anderen um die Bedeutung des Sorgeprinzips als gestaltendes Element in einer solidarischen Gesellschaft. Zunächst streben wir eine Vergesellschaftung des Care-Bereichs an. Damit meinen wir, dass nicht mehr Kapitaleigentümer_innen, sondern alle an Sorgebeziehungen Beteiligten die Entscheidungen treffen. Wir sehen gerade in diesem Bereich gute Voraussetzungen, um solidarische Praxen zu erproben. Hierfür sprechen folgende Argumente:   1) Sorge ist im Leben von Menschen von existenzieller Bedeutung. Denn wir sind zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens auf die Sorgearbeit anderer angewiesen. Dies gilt nicht nur bei Geburt und Tod, bei Krankheit und der Entwicklung als Kind. Auch als erwachsene, körperlich nicht eingeschränkte Menschen können wir nicht leben, ohne dass wir Essen, Trost, Rat oder Anregungen erhalten, von uns selbst, aber gerade auch von anderen. Dass wir als Menschen verletzliche Wesen sind, zieht sich durch unser Leben. Deswegen ist für alle Menschen von unmittelbarer Bedeutung, dass eine bedürfnisgerechte Versorgung in diesem existenziellen Bereich gelingt. 2) Sorgebeziehungen haben nicht nur zentrale Bedeutung im Leben, darüber hinaus erfordert gute Sorge Zeit und Eingehen auf individuelle Besonderheiten. Deswegen begreifen viele Menschen, wie unsinnig es ist, den Care-Bereich durch Kriterien wie Rentabilität, maximale Effizienz oder Marktkonkurrenz zu strukturieren und zu steuern. 3) In diesem Bereich können sich Sorge Empfangende, Menschen, die mit und für nahestehende Personen oder in sozialen Projekten Sorgearbeit leisten, und Sorgebeschäftigte eher als in anderen Bereichen in ihren verschränkten Interessen und möglichst auf Augenhöhe treffen. Menschen bringen ihre verschiedenen Bedürfnisse ein und verfügen über unterschiedliche Informationen, die bei der Ausgestaltung des Sorgeverhältnisses berücksichtigt werden müssen. Im Care-Bereich wird daher besonders deutlich, dass Entscheidungen besser werden, wenn alle am Care-Verhältnis Beteiligten ihre Sichtweise einbringen können. 4) Ein Großteil der Sorgearbeit findet räumlich dezentralisiert statt, weil Schulen, Ärzt_innenpraxen, Kantinen oder Nachbarschaftszentren regelmäßig und einfach erreichbar sein müssen. Über solche dezentralen Einrichtungen lässt sich auch gut vor Ort entscheiden. Dies erleichtert das praktische Ausprobieren von Formen unmittelbarer demokratischer Entscheidungsfindung, weil Aushandlungsprozesse direkt unter allen Beteiligten stattfinden können. So ist denkbar, dass in Stadtteilen und Orten Care-Räte entstehen, in denen Menschen zusammenkommen, um Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung oder wechselseitige Unterstützung bei der Gestaltung des Alltags gemeinsam zu organisieren. 5) Es sind verschiedene Wege vorstellbar, wie die Care-Einrichtungen organisiert werden, auf die Menschen angewiesen sind. Eine demokratisierte soziale Infrastruktur, z.B. in Form kommunaler Krankenhäuser, hat ebenso ihren Platz wie von der Gemeinschaft unterstützte Commons, beispielsweise selbstverwaltete Polikliniken. Auf diese Weise treffen verschiedene Konzepte, wie Gesundheitsversorgung stattfinden kann, aufeinander. Eine solche Vielfalt sehen wir grundsätzlich positiv. Dafür, dass diese Angebote in ihrer Summe dem Bedarf im Stadtteil entsprechen, können die genannten Care-Räte sorgen. Sicher werden die erforderlichen Abstimmungsprozesse auch zu Reibungsprozessen führen. Allerdings ist es vorzuziehen, dass Konflikte offen ausgetragen werden können, anstatt dass Eigentümer_innen oder als sachverständig bezeichnete Gremien entscheiden und der Großteil der Betroffenen keine Einflussmöglichkeiten hat. Das Konzept der Care Revolution sieht die Bedeutung von Care für den Einstieg in eine solidarische Gesellschaft jedoch nicht nur bezogen auf den Care-Bereich selbst. Als zweiten Aspekt halten wir es für erforderlich, dass die Sorge füreinander in allen Bereichen der Gesellschaft handlungsleitend wird. Denn es zeichnet gelingende Sorgebeziehungen aus, dass die grundlegende Bedürftigkeit von Menschen und ihre Angewiesenheit aufeinander positiv, als Befriedigung der Bedürfnisse aller an der Sorgebeziehung Beteiligten, erlebt werden. Und eben dies macht eine solidarische, von wechselseitiger Unterstützung geprägte Gesellschaft aus. Wenn wir der instrumentellen Gestaltung sozialer Verhältnisse im Kapitalismus das Prinzip der Sorge füreinander entgegenstellen, beschränkt sich dies eben nicht auf die Care-Arbeit als solche. Landwirtschaft, Mobilität, Wohnungsbau, Softwareentwicklung, Kunst – überall geht es darum, dass Menschen in Kooperation miteinander treten und in diesem Prozess die eigenen Bedürfnisse befriedigen sowie die Bedürfnisse derjenigen, die ihre Arbeitsergebnisse nutzen. Und wenn Menschen, während sie miteinander arbeiten und während sie die Ergebnisse ihrer Arbeit miteinander teilen, sich aufeinander beziehen und umeinander kümmern, sorgen sie in diesem Moment füreinander. In diesem Sinn wird die Sorge füreinander zum einen die gesamte Gesellschaft durchziehenden Prinzip: Das kooperative Wirtschaften dient der Befriedigung der Bedürfnisse aller Gesellschaftsmitglieder. Genau hieran, nicht an Markterfolg, Planerfüllung oder irgendetwas anderem ist sie zu messen. Eine solche direkte Ausrichtung der Ökonomie an menschlichen Bedürfnissen erfordert auch, dass alle Menschen, ob im Kollektiv, im Wohnbezirk oder auf regionaler und überregionaler Ebene, sagen können, was sie brauchen. Dies gilt für das, was sie beitragen möchten, wie für das, was sie von anderen benötigen. Dabei müssen alle gleichermaßen Gehör erhalten: Sorgender Umgang miteinander und Diskriminierung sind unvereinbar. Dass alle Menschen gleichermaßen an Entscheidungen mitwirken und gehört werden, ist nicht nur eine Frage der Anerkennung. Sondern es sind auch demokratische Formen erforderlich, die alle Lebensbereiche umfassen. Unter diesen Voraussetzungen kann unserer Auffassung nach eine Gesellschaft von gegenseitiger Unterstützung geprägt sein. Diese Unterstützung, die in menschlichen Nahbeziehungen als sorgende Beziehung zueinander verstanden wird, lässt sich zwischen Gruppen von Menschen als solidarisches Verhalten denken. Wir streben also eine Gesellschaft an, in der die Sorge füreinander als gesellschaftliches Prinzip anerkannt ist. Und wir haben versucht zu begründen, dass das Konzept der Sorge untrennbar mit Bedürfnisorientierung, dem Abbau von Diskriminierung, Demokratie und Solidarität verbunden ist und auch nur in dieser Verbindung auf gesellschaftlicher Ebene einen Sinn ergibt. Viele unterschiedliche Bewegungen und Gruppen streben in der einen oder anderen Form eine solche Gesellschaft an, in der sich Menschen positiv und unterstützend aufeinander beziehen, statt miteinander in Konkurrenz zu treten und sich wechselseitig zu instrumentalisieren. Viele beschreiben ihre Vorstellung einer solchen Gesellschaft, ohne den Begriff der Sorge zu verwenden. Und viele suchen Ansatzpunkte in anderen Bereichen als Care. Alle diese Menschen möchten wir dazu einladen, dass wir uns gegenseitig in Kämpfen unterstützen, miteinander Experimente des Zusammenlebens ebenso teilen wie Zukunftsvisionen, und dass wir uns gegenseitig auf Probleme und Widersprüche aufmerksam machen. Und wir freuen uns über entsprechende Einladungen von euch.  
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