Care Revolution | Sorge-Ökonomie im Lokalen: Kiez und Dorf für Alle
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Sorge-Ökonomie im Lokalen: Kiez und Dorf für Alle

Aktuelles – 25. Januar 2021 – Debatte, Debatte
Beitrag in der Reihe Perspektiven von Sven Drebes (Berlin), Alexandra Gerber (Leipzig) und Ann Wiesental (Berlin).  Mit freundlicher Genehmigung von CONTRASTE Zeitung für Selbstorganisation
In unserer Utopie leben im Jahr 2048 alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit in Kiezen oder Dörfern zusammen, solidarisch, im Austausch, barrierefrei. Dieser Artikel befasst sich mit den Fragen, wie solche Strukturen gestaltet sein müssen, damit wirklich alle Menschen daran teilhaben können. Er basiert auf einem Workshop, den wir beim Kongress »Zukunft für Alle« des Konzeptwerks Neue Ökonomie 2020 durchgeführt haben, er geht jedoch teilweise darüber hinaus. Bei vielen Überlegungen steht die Analyse und Kritik der Verhältnisse am Anfang und zur Utopie kommt es oft gar nicht. Wir haben uns deswegen sehr über den Kongress gefreut, bei dem es um die Utopie ging. Ein Kriterium, an dem sich unsere Utopie messen lassen muss, ist, dass bei Entscheidungen, Entwicklungen und Priorisierungen der tatsächliche Bedarf der Menschen im Zentrum steht und nicht das Ziel, möglichst schnell und viel Profit zu erzielen. Care-Bedarfe dürfen nicht weiter wie der Bedarf nach Waren organisiert werden und die damit zusammenhängenden Arbeiten und Beziehungen somit nicht warenförmig. Außerdem sollten die Bedarfe sowie die Notwendigkeit guter Bedingungen von den drei Positionen aus gedacht werden. Das bedeutet, dass Care-Nehmer*innen sowie unbezahlte und bezahlte Care-Arbeiter*innen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden sollen. In den 2010er Jahren kam der technokratisch klingende Begriff »inklusive Sozialräume« auf, der diese utopischen Strukturen gut beschreibt. Daran erinnern sich im Jahr 2048 allerdings nur noch wenige, weil die inklusive Gestaltung so selbstverständlich geworden ist, dass nicht mehr darauf hingewiesen werden muss. Einige Menschen brauchen weiterhin in mehr oder weniger großem Umfang persönliche Assistenz oder spezialisierte Unterstützungsstrukturen. Care-Bedarfe wie Kinderbetreuung, Beziehungsarbeit, Kochen und Hausarbeit werden in unterschiedlichen Formen, zu großen Teilen selbstverwaltet und gemeinschaftlich organisiert. Weniger Erwerbsarbeit Eine wesentliche Veränderung hat 2048 in der Zeitpolitik stattgefunden. Ein Orientierungspunkt ist nunmehr die »Vier-in-Einem«-Perspektive von Frigga Haug. Den Menschen steht danach ähnlich viel Zeit zur Verfügung für vier verschiedene Arten von Tätigkeiten: produktive, reproduktive und politische Arbeit sowie Arbeit im Bereich Kreativität, Muße und Freizeit. Dazu musste der Anteil der Erwerbsarbeit deutlich abnehmen. Die Menschen müssen nicht mehr als 20 Stunden die Woche einer Erwerbsarbeit nachgehen. Damit verbunden ist, dass alle Tätigkeiten des Lebens wertgeschätzt und anerkannt werden und sie befreit sind vom Druck zur Effizienz. Somit stehen die Beziehungen stärker im Zentrum. Gemeinschaft und Kollektivität haben einen hohen Stellenwert, doch es gibt keinen Zwang. Da wo es den Wunsch nach gemeinschaftlichem, kollektivem Leben gibt, wird es gefördert und unterstützt, Care-Arbeit versteht sich als Angebot. Die dafür notwendigen sozialen Netzwerke sind zusehends wichtiger in unserem täglichen Umgang geworden und prägen unser Dasein nachhaltig, wir tragen uns alle miteinander gemeinsam. Sie sind entstanden, weil wir Solidarität und Soziales leben und stärken, anstatt ökonomisches Kapital zu akkumulieren. Beziehungen sind offener und vielfältiger und bekommen eine mindestens genauso hohe Bedeutung zugemessen wie einst Kleinfamilien. Wir fokussieren uns nicht mehr auf cis-heterosexuelle monogame Beziehungen, wie Kleinfamilien, an denen sich bisher alle anderen Formen der Beziehungen und somit der sozialen Strukturen rund um Care-Arbeit ausgerichtet hatten, sondern erweitern diese zum Beispiel dadurch, dass Menschen, die ein hohes Maß an Ressourcen aufweisen, diese mit anderen, auch außerhalb ihrer Nahbeziehungen teilen können, wenn sie möchten. Durch das Aufbrechen der Heteronormativität wird Care-Arbeit nicht mehr zu einem großen Anteil von weiblich sozialisierten Personen abgedeckt, vielmehr beteiligen sich auch Personen, die sich mit anderen Geschlechtern identifizieren, an Care-Arbeiten, egal in welcher Form. Grenzen werden geöffnet Da Care-Tätigkeiten kollektiv und solidarisch außerhalb der Kernfamilien umgesetzt werden, müssen diese nicht mehr von schlecht bezahlten Migrant*innen aus Osteuropa und dem globalen Süden erledigt werden. Ihre Qualifikationen und Bildungsabschlüsse werden anerkannt, so dass sie in ihren erlernten Berufen arbeiten können und nicht mehr die Versorgungslücken füllen müssen. Voraussetzung dafür ist, dass die Grenzen weltweit für Menschen geöffnet werden. Um die Ausbeutung von sozialen und ökologischen Ressourcen einzudämmen, werden diese nicht mehr primär zur Kapitalakkumulation eingesetzt und stärker reguliert. Das Eigentum an Produktionsmitteln hat abgenommen, immer mehr Bereiche sind vergesellschaftet, in gemeinschaftlichem oder Genossenschaftsbesitz. Die Organisationsstrukturen sind dort flacher und basisdemokratischer. Durch die teilweise Vergesellschaftung von Eigentum haben die Bedeutung und Wertschätzung von Geld abgenommen. Menschen können auch ohne Geld partizipieren, denn das Ein- und Auskommen ist nicht mehr von der Erwerbsarbeit abhängig. Auch die Ressourcen und benötigte Infrastrukturen, um die Bedarfe nach bezahlter Care-Arbeit zu decken, werden solidarisch von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Alle sind ausreichend – zum Beispiel über ein bedingungsloses, globales Grundeinkommen – versorgt, niemand muss mehr hungern oder ohne Obdach sein. Vielfalt ist ein Wert an sich 2048 hat sich viel verändert, doch es war nicht immer ganz einfach, die vorherigen Strukturen so umzugestalten, dass sie für alle barrierefrei zugänglich sind. Barrierefrei ist, was für Menschen auf die allgemein übliche Weise und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar ist, wobei die Betonung auf »grundsätzlich« liegt. Das Konzept Barrierefreiheit wurde früher meistens als ein behindertenpolitisches verwendet, es ließ sich aber problemlos auf andere Ausschlüsse übertragen. Dort, wo Barrierefreiheit noch nicht hergestellt ist, bestimmte Barrieren aus technischen Gründen nicht beseitigt werden konnten oder bestimmte behinderte Menschen grundsätzlich barrierefreie Angebote nicht nutzen können, haben so genannte »angemessene Vorkehrungen« den Zugang ermöglicht. Das sind individuell an die Bedarfe der Menschen und die Situation angepasste Maßnahmen. Barrierefreiheit ist eine wesentliche Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft nimmt alle in ihrer gesamten Vielfalt wahr und akzeptiert diese Vielfalt als Wert an sich. Dazu gehört die Erkenntnis, dass jede Person bestimmte Stärken hat, die sie unter bestimmten Bedingungen entfalten kann. Einige benötigen dazu – aus welchen Gründen auch immer – Bedingungen, die deutlich von denen der anderen abweichen, weswegen die Gesellschaft zur Schaffung solcher Bedingungen beitragen muss. Das Vorhandensein von Behinderungen bzw. körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen ist dabei nur ein Anlass von vielen. Die damalige Diskussion über Inklusion im deutschsprachigen Mainstream griff daher deutlich zu kurz. Bei der inklusiven Gestaltung der Gesellschaft allgemein oder von bestimmten Strukturen ist unter anderem zu beachten, dass Menschen nicht behindert sind, weil sie bestimmte Tätigkeiten nicht ausführen können. Menschen werden vielmehr behindert, weil die Gesellschaft bestimmte Anforderungen an sie stellt, die sie auf Grund ihrer physischen, psychischen oder kognitiven Eigenschaften nicht erfüllen können. Dabei sind diese Eigenschaften nur bei einer Minderheit der Menschen von Anderen wahrnehmbar. Barrieren für Beteiligung abbauen 2048 werden alle Arbeiten, produktive und reproduktive, in der Gesellschaft als gleichberechtigt wertvoll wahrgenommen und geschätzt. Die basisdemokratische Organisation in den Kiezen und Dörfern erfolgt überwiegend in inklusiv gestalteten Räten. Dort kommen Menschen in kleinen und größeren Einheiten zusammen, und alle Bedarfe nach Angeboten und Infrastrukturen werden gehört. So kann in erster Linie für diese sensibilisiert werden, um sie zu koordinieren und die zu ihrer Deckung notwendigen Arbeiten und Maßnahmen zu organisieren. Dabei gibt es zum Beispiel Beauftragte, deren Fokus die Diversität ist. Machtverhältnisse und strukturelle Benachteiligungen werden abgebaut, wodurch sichergestellt wird, dass alle, die das möchten, sich aktiv einbringen können Letzteres stellt insbesondere selbstorganisierte Strukturen vor Herausforderungen, da das Konzept Selbstorganisation relativ hohe Anforderungen an die Beteiligten stellt. Früher wurde dies besonders von Gruppen praktiziert, in denen sich Menschen zusammenfanden, die in Bezug auf Bildung, (soziale) Herkunft und politische Einstellungen relativ homogen waren. Um Organisationsstrukturen inklusiver zu gestalten, wurden deswegen die Erwartungen an »Neue« überprüft sowie eine Vielfalt an Möglichkeiten zur Beteiligung und eine transparente Kommunikation geschaffen, die proaktiv darstellt, welche Barrieren man bereits vermieden bzw. (schon) abgebaut hat und welche »angemessenen Vorkehrungen« weiter organisiert werden können. Benachteiligte Menschen fühlen sich so von vorneherein angesprochen. Ansätze für diese Veränderungen waren 2020 schon erkennbar. Gerade durch die Corona-Krise ist uns allen umso mehr bewusst geworden, wie wichtig soziale Beziehungen sind und dass ein solidarisches Miteinander in den meisten von uns verankert ist. Auch die prekäre Situation in den Institutionen zur Betreuung bzw. Unterbringung obdachloser, behinderter, pflegebedürftiger und geflüchteter Menschen wurde durch die Pandemie wie in einem Brennglas deutlich. Als Reaktion darauf wuchs das Interesse an alternativen Care-Strukturen, die bereits im Kleinen existierten, deutlich. So haben sich von unten Strukturen entwickelt, in denen Zeit und materielle Güter geteilt wurden. Lasst uns daran festhalten und sie groß machen, so dass der Begriff von Inklusion hinfällig wird, weil alles inklusiv ist. In unserer Utopie 2048 hat sich das realisiert, und das Leben und Miteinander ist von Solidarität und Teilhabe geprägt. Wir freuen uns auf diese Zukunft! Die Autor*innen kennen sich über Aktivitäten des Care Revolution Netzwerks. Sie arbeiten zu unterschiedlichen Bereichen wie Ökonomie, Care, Behindertenpolitik und Feminismus.
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