Care Revolution | „Die zärtliche Revolution“ von Annelie Boros. Ein Interview mit der Regisseurin
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„Die zärtliche Revolution“ von Annelie Boros. Ein Interview mit der Regisseurin

Aktuelles – 28. Juli 2025

Die Anbieter*innen des Films „Die zärtliche Revolution“ wiesen uns auf diesen Film hin. Da wir die Protagonist*innen teils kennen – Arnold Schnittger ist mit Nicos Farm e.V. Teil des Netzwerks Care Revolution; mit Bozena Domanska hat die Freiburger Regionalgruppe im Rahmen eines Bündnisses eine Veranstaltung organisiert – waren wir neugierig. Nachdem ein paar von uns die Chance hatten, den Film vorab zu sehen, hatten wir große Lust auf ein Interview mit der Regisseurin. Das Ergebnis lest ihr hier.

Filmstart ist der 14. August; das Interview mit Annelie Boros führte Matthias Neumann.

 

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Du hast deinem Film den Titel „Die zärtliche Revolution“ gegeben. Er vereint das Leiden von Menschen unter den Rahmenbedingungen der Care-Arbeit, den persönlichen Kontakt zu Schmerz, Empörung sowie Zugewandtheit zu anderen, das Streben nach Alternativen. Was hat dich inspiriert, das persönliche Erleiden und Begehren der Protagonist*innen ins Zentrum dieser Verbindung zu stellen?

Schon vor der Corona-Pandemie hatte ich mich vermehrt mit dem Thema Care-Arbeit beschäftigt und beobachtet, wie viele Menschen um mich herum damit kämpfen, gut für sich und andere zu sorgen. Corona hat das dann noch mal deutlich verstärkt und ich fand absurd, dass wir ständig unsere Arbeit und unsere Leistung priorisieren, statt uns gut umeinander zu kümmern. Plötzlich habe ich das überall gesehen: in Freundschaften, unter Eltern, bei kranken und behinderten Menschen. Als sich während meiner Recherche für den Film auch noch meine Mitbewohnerin das Leben nahm, war mir klar: Ich will mich mit diesem Film fragen, in welcher Welt sie gern gelebt hätte. Wie sähe so eine Welt aus? Eine Welt voller Fürsorge und Zärtlichkeit? Der Film trifft also auf unterschiedliche Menschen, die sich um andere kümmern und sich genau diese Frage stellen: Was müssen wir in unserer Welt verändern, damit wir Zeit und Raum haben, unsere Bedürfnisse statt Profite ins Zentrum zu stellen?

Bitte beschreibe für die Leser*innen, wer im Mittelpunkt des Films steht und weshalb du diese Menschen ausgewählt hast.

Meine persönliche Erfahrung mit meiner Mitbewohnerin ist der Rahmen und die Ausgangsfrage des Films: Wie hätte die Welt sein müssen, damit sie nicht als einzigen Ausweg sieht, von ihr zu verschwinden? Wir treffen dann im Laufe des Films auf vier Protagonist:innen, die mir helfen, diese Frage zu beantworten. Da ist der pflegende Vater Arnold Schnittger, der sich seit 30 Jahren um seinen schwerbehinderten Sohn Nico kümmert, den Verein „Nicos Farm“ gegründet hat und mit Protestaktionen seit Jahren dafür kämpft, dass sich für pflegende Angehörige etwas verändert. Dann treffen wir Bożena Domańska, ehemalige 24-Stunden-Pflegekraft aus Polen, die Eltern und Tochter in ihrer Heimat zurück lies, um sich in Deutschland und der Schweiz um Senior:innen zu kümmern und heute gewerkschaftlich organisiert ist, um mit anderen Pflegekräften für ihre Rechte zu kämpfen. Außerdem treffen wir Amanda Luna Tacunan, indigene Klimaaktivistin und Medizinerin, die in Peru schon etliche Klimakatastrophen miterlebte und uns bewusst machen will, dass wir nur gesund sind, wenn unsere Umwelt es auch ist und die Sorge für die Natur dringend zu einer Fürsorge-Revolution dazugehört. Und zuletzt Samuel Flach, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt und von seinen Erfahrungen als Sorge-Empfangender erzählt, während er gleichzeitig auch fürsorglich tätig ist, indem er mit seinem Verein Gemeinwohlwohnen ein inklusives Hausprojekt mitten im Zentrum von München aufbaut.

Immer wieder klingt im Film an, dass es im Kapitalismus – oder würdest du es auf einen anderen Begriff bringen? – nicht nur an Zeit, Ressourcen und Empathie für Menschen in Sorgebeziehungen fehlt, sondern auch die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört werden. Was macht diesen Zusammenhang aus?

In einem kapitalistischen System sind wir derzeit nicht dazu angehalten, wirklich darauf zu hören, was wir brauchen. Wir überschreiten alle im Grunde ständig unsere eigenen Grenzen und haben oft nicht die Möglichkeit, wirklich auf unsere Bedürfnisse zu achten. Ähnlich wie mit unseren eigenen Körpern gehen wir auch mit der Natur um: Wir denken, dass ihre Ressourcen unendlich sind und vergessen dabei, dass wir absolut abhängig davon sind. Und diese Abhängigkeit von der Welt, in der wir leben, von anderen Menschen und der eigenen Gesundheit haben wir gelernt, als etwas Negatives anzusehen: Wir denken, wir seien schwach, wenn wir andere in Anspruch nehmen müssen, wenn wir etwas nicht schaffen oder an unsere Grenzen kommen – und so wollen wir auch nicht sehen, dass wir die Natur nicht kontrollieren können. Aber gerade darauf will ich mit dem Film aufmerksam machen: Wir sind nicht unabhängig und losgelöst von unseren Bedürfnissen und unserem Umfeld. Wir sind alle ständig abhängig, wir brauchen Fürsorge ab der Sekunde, in der wir geboren werden – und brauchen sie auch als gesunde Erwachsene jeden Tag: indem wir Nahrung aufnehmen, Selbstfürsorge betreiben, jemanden um Rat fragen. Das anzunehmen und sich bewusst zu machen, wie sehr wir unsere Umwelt und andere Menschen brauchen – und wie schön das ist und genau das zu feiern! – möchte dieser Film schaffen.

Im Film heißt es: „Samuel schreibt mir: Wie sähe unsere Welt aus, wenn Care im Mittelpunkt allen Tuns stünde?“ Wie sähe sie aus?

Ich glaube nicht, dass ich allein diese Antwort geben kann. Aber ich würde mir wünschen, dass sich alle, die den Film schauen, mit dieser Frage beschäftigen und eine Antwort für sich suchen. Für mich persönlich wäre es eine Welt, in der wir Arbeit so verteilen, dass es Fürsorge-Netzwerke gäbe, in denen niemand überlastet sein muss, wenn jemand anderes auf Hilfe angewiesen ist, weil die Arbeit auf genug Schultern verteilt wäre. Eine Welt, in der wir genau deshalb Fürsorge als das sehen können, was es ist: Als eine sehr schöne, sinnstiftende und verbindende Tätigkeit. Eine Welt, in der vielleicht auch meine Mitbewohnerin nicht hätte entscheiden müssen, dass sie nicht dazugehören kann – weil wir nicht vor lauter Erwerbsarbeit keine Zeit gehabt hätten, uns mit ihrem Zustand zu befassen, sondern Raum hätten, mit allen Abweichungen von einer vermeintlichen „Norm“ behutsam umzugehen. Eine Welt frei vom Stigma psychischer und physischer Erkrankungen, in der wir eben die Bedürfnisse aller ins Zentrum stellen. Klingt doch schön, oder?

Und schließlich: Zu welchen Schritten einer zärtlichen Revolution möchtest du die Betrachter*innen animieren?

Im Kleinen und Privaten: sofern es geht, das zu priorisieren, was wirklich wichtig ist. Hinzuschauen in Welten, die sonst unsichtbar sind. Auf diese Welten aufmerksam zu machen. Nachzufragen, wenn es so wirkt, als könnte jemand in Not sein. Sich zu fragen: Wie möchte ich leben? Und: Ehrlich zu sich zu sein und das auch zu kommunizieren: Je mehr wir darüber reden, was wir brauchen, wo wir bedürftig und in Not sind, desto mehr können wir im Kleinen auch dazu beitragen, dass normalisiert wird, dass wir alle ständig andere brauchen.

Im Großen und Politischen: Aktiv werden für eine Care Revolution! Es gibt so viele Vereine und Gemeinschaften, in denen man sich engagieren kann. So viele Menschen, die schon so viel inspirierende Arbeit leisten, an die man sich anschließen kann. So oft fühlt man sich mit seinen Bedürfnissen allen – aber je mehr man darüber spricht und es in die Öffentlichkeit trägt, desto klarer wird, wie viele Leute da draußen sind, die genauso fühlen und sich vielleicht eine ähnliche Veränderung wünschen. Und diese einzelnen Kämpfe müssen zusammengebracht werden!

Gibt es noch etwas, was du gerne ergänzen möchtest?

Gerade sieht die Welt manchmal sehr düster aus. Aber glaube fest daran, dass eine zärtliche Revolution möglich ist, und die Protagonist:innen dieses Films haben mir geholfen zu sehen, was schon alles da ist, woraus man schöpfen kann. Ich bin sehr optimistisch, dass sich vieles wieder zum Besseren verändert, wenn wir weiter gemeinsam daran arbeiten. Wie Arnold im Film sagt: „Immer zwischen Zärtlichkeit und Wut!“

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