Care Revolution | Respekt statt Prekarität: Eine Initiative für faire Arbeitsbedingungen in der Live-in-Betreuung in Deutschland
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Respekt statt Prekarität: Eine Initiative für faire Arbeitsbedingungen in der Live-in-Betreuung in Deutschland

Aktuelles – 29. Mai 2024 – Debatte

Eine Vorstellung des Respekt-Netzwerks im Kreis Heinsberg/NRW

Wir freuen uns, dass Hêvîdar Işik diesen Beitrag für unsere Website zur Verfügung stellt. Sie studiert Labour Studies und Social Policy an den Universitäten Bremen und Mailand. Für ihre Abschlussarbeit untersucht sie die Netzwerke Respekt@vpod in der Schweiz und Respekt in Deutschland und deren Strukturen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Live-in-Betreuungskräften.

Der steigende Bedarf an Pflegeleistungen in der Langzeitpflege steht in starkem Kontrast zu den sinkenden Personalressourcen sowie der Finanzlücke im Pflegesektor. Nach den Erkenntnissen des DAK-Pflegereports 2024 wird ein prognostizierter Rückgang an verfügbaren Pflegekräften ab Ende der 2020er Jahre vorausgesagt, der nicht durch Absolvent:innen von Pflegefachschulen ausgeglichen werden kann.

Um dieser Problematik zu begegnen, wird vermehrt auf sogenannte Live-in-Betreuungskräfte zurückgegriffen. Diese Form der Beschäftigung, auch bekannt als "24-Stunden-Care-Arbeit", beinhaltet die Betreuung und das gemeinsame Leben mit den zu pflegenden Personen in deren privaten Haushalten. Insbesondere migrantische Frauen aus osteuropäischen Ländern arbeiten häufig für einige Monate in Ländern wie Deutschland und der Schweiz, bevor sie in ihre Heimatländer zurückkehren - ein Phänomen, das als "zyklische Migration" bezeichnet wird. Diese Tätigkeit erfordert nicht nur körperliche Arbeiten wie Kochen und Reinigen, sondern auch emotionale Arbeit.

Neben dem wachsenden Schwarzarbeitsmarkt, der Live-in-Betreuungskräfte in die Illegalität drängt, stellt die Nichtberücksichtigung der tatsächlichen Arbeitszeit der Betreuungskräfte in bestehenden Arbeitsverträgen ein großes Problem dar. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil die Live-in-Betreuungskräfte mit den Menschen, für die sie tätig sind, in einem Haushalt leben und oft ständig verfügbar sein müssen. Die Abgrenzung zwischen Freizeit und Arbeitszeit ist daher schwierig. Zudem arbeiten viele Live-Ins in Deutschland in sogenannter (Schein-)Selbständigkeit. Dies hat zur Folge, dass die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zu Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten nicht greifen, da sie für Selbstständige nicht gelten (vgl. Emunds und Habel 2020)[1].

Diese prekären Arbeitsbedingungen führen häufig zu einer psychischen und physischen Überlastung der Live-in-Betreuungskräfte. Zwar hat die Bundesregierung im Koalitionsvertrag eine Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Live-in-Betreuung angekündigt, konkrete Maßnahmen sind jedoch bislang ausgeblieben.

Doch wo Missstände bestehen, formiert sich auch Widerstand. Ein Beispiel hierfür ist das Netzwerk "Respekt@vpod", das 2013 in der Region Basel ins Leben gerufen wurde. Dieses Netzwerk bietet den Live-in-Betreuungskräften eine eigene Plattform, um auf ihre prekären Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen und für Arbeitsrechte einzutreten.

In Deutschland gibt es zwar noch kein vergleichbares Netzwerk, jedoch entstehen lokale Initiativen wie das "Respekt"-Netzwerk im Kreis Heinsberg der Genossenschaft AMOS, das sich für die Interessen osteuropäischer Pflegekräfte einsetzt und Unterstützung bei der Ausübung ihrer Arbeit bietet. Diese Initiative bietet verschiedene Aktivitäten und Angebote an, darunter Deutschkurse, Schulungen in der Pflege und Informationen zu Arbeitsrechten.

Eine weitere Maßnahme des Netzwerks ist die Schaffung der Website https://respectcare.de/de, auf der Pflegekräfte Informationen über ihre Rechte, Arbeitsfragen und Organisationen erhalten können, die sie kontaktieren können. Das Netzwerk fördert zudem den Austausch und die Unterstützung unter den Live-in-Betreuungskräften. Zu diesem Zweck werden Treffen zwischen den Betreuungskräften organisiert, um die Vernetzung untereinander zu fördern. Bei jedem Treffen kommen etwa 10–15 Live-in-Betreuungskräfte zusammen, wobei das Netzwerk insgesamt Kontakt zu ca. 60 Live-in-Betreuungskräften hat. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, seelsorgerische Betreuung durch eine Pastorin in polnischer Sprache in Anspruch zu nehmen.

Der Kontakt zu den Live-in-Betreuungskräften wird neben der Verteilung von Flyern und der Präsenz in sozialen Medien auch dadurch hergestellt, dass bereits vernetzte Live-in-Betreuungskräfte das Netzwerk weiterempfehlen. Zu diesem Zweck existieren auch eigene WhatsApp-Gruppen, in denen der Kontakt zu den Live-in-Betreuungskräften gepflegt wird. Aufgrund des hohen Isolationspotenzials, das mit dem Arbeitsverhältnis der Live-in-Betreuungskräfte einhergeht, gestaltet sich die Herstellung eines längerfristigen Kontakts für die Aktivist:innen des Netzwerks jedoch als schwierig. Diese Situation ist dadurch bedingt, dass die Live-in-Betreuungskräfte mit den Menschen, für die sie arbeiten, zusammenleben und in der Regel nur wenige Monate in Deutschland arbeiten, bevor sie wieder in ihr Heimatland zurückkehren. In einigen Fällen obliegt es den Aktivist:innen, die Live-in-Betreuungskräfte selbst von ihrem Arbeitsplatz abzuholen, da diese ohne Hilfsmittel wie beispielsweise Fahrräder nicht mobil sind.

Trotz ihrer Arbeit, die darauf abzielt, die Arbeitsbedingungen und Lebensbedingungen von Live-in-Betreuungskräften in Deutschland zu verbessern, gibt es außerhalb von AMOS eG und dem Bistum Aachen keine weitere finanzielle Unterstützung für das Respekt-Netzwerk. So arbeiten einige Aktivist:innen komplett ehrenamtlich im Netzwerk, was angesichts ihrer Aufgaben mit einem hohen Zeitaufwand verbunden ist.

In einem Gespräch betonte ein Sprecher der Initiative, dass sie sich eine engere Zusammenarbeit mit den deutschen Gewerkschaften wünschen. Das Netzwerk Respekt möchte gemeinsam in breiten Bündnissen politische Positionspapiere veröffentlichen, die die Prekarität im 24-Stunden-Betreuungssektor öffentlichkeitswirksam kritisieren. Der Sprecher betonte, dass ein Versuch, dies zu initiieren, zwar möglich war und in einem Stellungspapier das Modell der (Schein-)Selbständigkeit kritisiert und maßgebliche Veränderungen gefordert wurden. Jedoch brauche es weitere Unterstützer und Unterschriften, auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund und von dessen mitfinanzierten Projekten wie Faire Mobilität, um breiter aufgestellt zu sein und eine stärkere Wirkung zu erzielen.

Die ehrenamtlichen Mitglieder des Netzwerks betonen die Notwendigkeit, das Thema der Live-in-Betreuung in die Öffentlichkeit zu bringen und mehr politischen Druck auszuüben, um Veränderungen im Sektor zu ermöglichen. Sie ziehen einen Vergleich mit der Fleischindustrie, in der Verbesserungen durch öffentliche Aufmerksamkeit und politische Intervention erreicht wurden. Sie argumentieren, dass auch für die Live-in-Betreuung eine öffentliche Debatte notwendig ist, die sowohl die Arbeitnehmerinnen als auch die zu betreuenden Personen betrifft. Die Sensibilität der Situation erfordere jedoch eine breitere öffentliche Debatte.


[1] Bernhard Emunds, Simone Habel: Von der Schwarzarbeit zum „grauen Markt“ – und darüber hinaus? Neuere und künftig notwendige Entwicklungen der sog. 24-Stunden-Pflege. In: Jacobs, Klaus u.a.: Pflege-Report 2020. Neuausrichtung von Versorgung und Finanzierung. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-61362-7_7 (open access)

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