Care Revolution | Supermärkte in der Sorgenden Stadt
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Supermärkte in der Sorgenden Stadt

Aktuelles – 16. August 2025

Matthias Neumann, August 2025

Ausgehend von der Aktionskonferenz zu Klimagerechtigkeit und Vergesellschaftung ‚Let’s Socialize‘  hat sich das Bündnis „Unser Lidl“ zusammengefunden, das Mitte Juli bei Aktionstagen in Heilbronn die Frage stellte „‘Lidl lohnt sich. Aber für wen eigentlich?‘ Während der Tage gab es verschiedene Aktionen, beispielsweise eine symbolische Baumbesetzung: Zur Erweiterung des Bildungscampus, die in hohem Maß von der Stiftung des Eigentümers Dieter Schwarz, mutmaßlich reichste Einzelperson Deutschlands, finanziert wird, sollen Bäume gefällt, öffentliches Grün versiegelt und ein Hallenbad abgerissen werden. Kein Drama – wenn du Privatpool und Privatpark hast.

Privateigentum vs. Demokratie

Die Unternehmensgruppe und ihre Stiftung greifen auf diese und andere Weise massiv in die Stadtentwicklung und damit die Lebensbedingungen der Menschen in Heilbronn ein. Diese Eingriffsmöglichkeit besteht wegen der finanziellen Abhängigkeit der Lokalpolitik von einem großen Mäzen, ist also direkte Folge der Kombination von privatem Reichtum und öffentlicher Armut. Wolfram Weimer schrieb 2021: „Schwarz hat sich die Multimilliarden selbst erarbeitet.“ Eine solche Haltung mag zum Kulturstaatsminister qualifizieren; möglicherweise haben jedoch die aktuell über eine halbe Million Beschäftigten ebenfalls beigetragen, die weltweit bei Lidl und Kaufland arbeiten.

Dass Privateigentum an Produktionsmitteln die Macht verleiht, über die Lebensumstände anderer zu bestimmen, ist das Gegenteil von Demokratie – Menschen verfügen gemeinsam über ihre Lebensbedingungen. Umgekehrt müssen ernstgemeinte Versuche, die Demokratie zu erweitern, diese Verbindung von Privateigentum und Macht grundlegend in Frage stellen. In einer Podiumsdiskussion gingen die Organisator*innen deshalb ihrem Thema „Unser Lidl“ nach: Wo ist das Problem, wenn eine solche Unternehmensgruppe in Privatbesitz ist, und was könnte anders werden, wenn Lidl wirklich „unser“ Lidl wäre, Beschäftigte und Nutzer*innen über die Märkte verfügen könnten? Bei dieser Veranstaltung wurden Perspektiven aus der Lebensmittelrettung, der Kommunalpolitik, der Landwirtschaft sowie im Supermarkt Beschäftigter zusammengetragen. Letztere Perspektive wurde vom Autor dieses Beitrags vertreten; ich habe 25 Jahre in Märkten vor allem der EDEKA-Gruppe gearbeitet und war in dieser Zeit auch als Betriebsrat und bei ver.di aktiv sowie Mitautor einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung.

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Privateigentümliche Supermärkte

Wie ein Konzern im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) agiert, ist größtenteils keine Frage von gutem oder bösem Willen. Die Branche wird von vier Konzernen bzw. Unternehmensgruppen beherrscht, die über insgesamt 85% des Umsatzes im LEH verfügen. Diese sind daher mächtig genug, um Rahmenbedingungen zu gestalten und Preise setzen zu können. Zugleich stehen sie in einer scharfen Konkurrenz zueinander, die auch über Preise ausgetragen wird. Da Zweck ihres Handelns die Erzielung von Gewinnen ist, geht es immer um die Differenz zwischen Umsätzen und Kosten. Das erzwingt maximale Effizienz des Einsatzes aller benötigten Waren, einschließlich der Arbeitskraft, mit entsprechendem Druck auf die Arbeitsbedingungen. Zudem wird maximaler Kostendruck beim Einkauf ausgeübt; auch das betrifft ebenfalls die Löhne als Preis der Arbeitskraft. Nebenbei: Wegen dieser Effizienzorientierung sind Supermärkte nicht der Ort, wo besonders viele Lebensmittel weggeworfen werden, denn Inventurverluste sind zur Kostenverringerung zu minimieren. Jedoch werden Käufer*innen dazu gebracht, zu viel zu kaufen – durch hohen Werbeaufwand oder indem kleine oder individuell nach Bedarf abgepackte Portionen viel teurer sind. Und bevor ablaufende Ware verschenkt wird, ist es aus Gewinnperspektive das geringere Übel, sie wegzuwerfen. Ebenso wirkt sich die Marktmacht der LEH-Konzerne auf die Einkaufspreise und damit ganz direkt auf die Arbeitsbedingungen entlang der Lieferketten aus. Die Bedingungen z.B. für Wanderarbeiter*innen auf spanischen Plantagen sind den LEH-Unternehmen weder unbekannt noch sind sie unschuldig an ihnen.

Diese Auswirkungen gibt es auch in den Märkten selbst: Hohe Arbeitsintensität, Minimierung der Belegschaften, kaum Zeit für Gespräche, Tarifflucht, ausufernde Erwartungen an die Flexibilität in dieser Branche mit überwiegend Frauenarbeit, für einen Ausbildungsberuf deutlich unterdurchschnittliche Entlohnung. All das ist alltäglich; gleichzeitig findet jedoch eine Indienstnahme von Kreativität, Eigeninitiative, Teamatmosphäre, Produzent*innenstolz auf handwerkliches Geschick oder Geschwindigkeit statt.

Letzteres setzt entsprechende Fähigkeiten voraus und ist wichtig für die Frage der Vergesellschaftung: Supermarktbeschäftigte sind mehrheitlich ausgebildet, das heißt unter anderem: Sie haben Einblick in alle Prozesse im Markt, weil sie während der Ausbildung in allen Abteilungen gearbeitet haben. Schon jetzt sind die Abläufe in den Abteilungen weitgehend selbstorganisiert, denn weil Belegschaften und Hierarchien aus Kostengründen ausgedünnt sind, ist bei gleichzeitig verlängerten Öffnungszeiten meist überhaupt niemand da, die* Anweisungen geben kann, was wann wie zu tun ist. Das bedeutet: Die Vergesellschaftung von Märkten würde nicht an mangelnden Fähigkeiten der Belegschaft scheitern; Selbstorganisation ist für die Beschäftigten nichts Unbekanntes. Zudem sind in dieser Branche mit hoher Konzentration, die zudem über Groß- und Einzelhandel sowie langfristige Lieferverträge vertikal integriert ist, sehr viele Prozesse schon jetzt geplant, auch zwischen den Betrieben. Bei Vergesellschaftung ginge es also vor allem darum, dass Subjekte und Ziele der Planung andere sein könnten: Es könnte direkt um Bedürfnisse gehen statt um maximale Kosteneffizienz.

Vergesellschaftete Supermärkte

Was würde denn, etwas konkreter gefasst, durch Vergesellschaftung anders? Zunächst ist der gesellschaftliche Rahmen entscheidend. Ein einzelner vergesellschafteter Markt müsste, wenn sich sonst nichts ändern würde und er sich in der Konkurrenz mit kapitalistisch geführten Läden behaupten müsste, im Wesentlichen dasselbe wie diese machen. Denn er müsste sich in der Konkurrenz behaupten, und jenseits – ungemein wichtiger, aber kleiner – solidarischer Nischen geht es hierbei um Kosten – Effizienz und Einkaufspreise –, nicht um bessere Arbeitsbedingungen im Markt und bei den Zulieferern, um Ökologie oder andere Kriterien. Wie aus einer Care-Perspektive auf gesellschaftlicher Ebene Alternativen gestaltet sein können, soll in diesem Text nicht vertieft werden, vgl. aber z.B. hier. Was ginge aber auf lokaler Ebene, wenn der Markt nicht nur auf Rendite ausgerichtet wäre?

Wenn wir groß, auf Ebene einer gesellschaftlichen Alternative, beginnen, sehen wir, dass trotz der ständigen Jagd nach Ausschöpfung aller Kostensenkungspotentiale im Kapitalismus durch die Kombination aus Konkurrenz und Renditeorientierung gesellschaftliche Arbeitszeit verschwendet wird; was betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, ist gesamtwirtschaftlich schädlich: Würde es nicht parallel operierende Konzerne mit ihren je eigenen Lieferketten geben, könnten die Wege zwischen Großlager und Läden kürzer sein und es müssten nicht LKWs parallel fahren. Alle die Kataloge, Werbevideos usw. wären überflüssig; die in diese fließende Arbeit dient der Absatzsteigerung, nicht der Versorgung mit Lebensmitteln. Gesellschaftliche Arbeitszeit würde auch in den Läden selbst gespart, wenn die Zeit, die für Kassieren, Werbung, Präsentation von Sonderangeboten oder Preisauszeichnungen verbraucht wird, entfiele. In einem Supermarkt mit Theken, in dem ich als Arbeiter und Betriebsrat guten Einblick hatte, bin ich auf ca. 35% der Arbeitszeit gekommen, die hier gebunden sind. In einem Discounter ohne Theken wird der Anteil sicherlich deutlich  höher sein. Die eingesparte Zeit ließe sich als Verkürzung der Lohnarbeitszeit, zur Entschleunigung der Arbeit, als Zeitpuffer für demokratische Entscheidungen oder für zusätzliche Aufgaben, die ungedeckte Bedürfnisse erfüllen, nutzen.

In einer durch demokratische Planung organisierten Ökonomie könnten Supermärkte drei wichtige Funktionen ausüben, gemäß den Aufgaben, die sie jetzt schon erfüllen: Erstens als Schnittstelle zu Konsument*innen: Produkte bereitstellen, lagern, portionieren, beraten usw., all das direkt an Bedürfnissen, nicht an Gewinnmaximierung orientiert. Zweitens als Schnittstelle zu Produzent*innen: Eine Anlaufstelle im Großlager, von dem aus Produkte vieler Lieferant*innen auf viele verschiedene Magazine verteilt werden und auch lokale Engpässe ausgeglichen werden können. Drittens existiert durch Information über den Lagerbestand und durch Erfahrung das Wissen, was für die Versorgung im Einzugsgebiet verfügbar sein und bestellt werden muss, einschließlich des Wissens über z.B. saisonale Bedarfsschwankungen, Großereignisse, Schulferien usw. Auch dies ist mittlerweile teils automatisiert, teils weiterhin Erfahrungswissen.

Supermärkte in der Sorgenden Stadt

Wenn wir etwas kleiner denken, stoßen wir auf vieles, was im Zusammenhang der Diskussion über Sorgende Städte von Bedeutung ist, denn Supermärkte haben im Stadtteil als Einrichtungen, die von vielen Menschen häufig aufgesucht werden und kaum verzichtbar sind, eine zentrale Rolle. Denn die Möglichkeit, sich in der Stadt mit Nahrungsmitteln zu versorgen, ist eng mit Sorgearbeit und mit Lebensqualität verbunden. Das zeigte sich auch, als in Umfragen der Initiative „Sorge ins Parkcenter“ zur Frage, wofür das größtenteils leerstehende Einkaufszentrum genutzt werden könnte, vor dem Hintergrund, dort ein Sorgezentrum einzurichten, Menschen im Einzugsgebiet sagten, dass ihnen der geschlossene Verbrauchermarkt fehlt.

Wenn der Supermarkt nicht vor allem dem gewinnbringenden Verkauf dient, könnte er sich auch für zusätzliche Funktionen öffnen, die im Einzugsgebiet wichtig sind: Nur ein paar Beispiele; einer zu diesem Zweck abgehaltenen Stadtteilversammlung würde sicherlich noch viel, viel mehr einfallen: Hier gibt es schon temperaturangepasste Lagerräume, die für Feste oder Wohnprojekte nutzbar sein könnten. Weniger mobile Menschen könnten ohne Aufpreis beliefert werden – weshalb sollen sie für ihr Handikap zusätzlich bestraft werden? Wo es Lebensmittel und häufig auch schon Möglichkeiten der Zubereitung gibt, könnte mit wenig Zusatzaufwand die Lebensmittelabgabe mit einer ‚Küche für alle‘/‘Volksküche‘ oder mit Ernährungs- und Kochunterricht für Kitas, Schulen und Nachbarn kombiniert werden. Von hier aus könnte bei der nächsten Pandemie die solidarische Lebensmittelversorgung organisiert werden. In der Hitzeperiode wären hier kühle Aufenthaltsräume mit Getränkeversorgung zu finden oder auch Ruheräume. Die Grenzen zwischen Belegschaft und interessierten Menschen sowohl in den Arbeitsabläufen als auch bei Entscheidungen könnten diffuser werden, wenn etwa die Belegschaft an einer Stadtteilversammlung teilnimmt. Hiervon wäre vieles schon jetzt möglich; viel mehr Spielraum gäbe es jedoch, wenn weder Lebensmittel noch Arbeitskraft Waren wären, wir uns also in einer anderen Produktionsweise befänden.

Wenn die Lebensmittelversorgung zu einem Bereich würde, der nicht mehr der Logik der Kapitalverwertung unterworfen wäre, würde das die Lebensqualität ungemein steigern. Solche Bereiche und sozialen Strukturen jenseits der Verwertungslogik fasst Gabriele Winker unter dem Begriff der solidarischen Care-Ökonomie zusammen. Auch hier geht es wie beim Konzept der Sorgenden Stadt um den Einstieg in eine feministische Vergesellschaftung, die als doppelte gedacht werden muss: Zum einen sollen die Einrichtungen, die für die Bewältigung der Sorgearbeit große Relevanz haben, aus privater Verfügung in die der Arbeitenden und Nutzer*innen übergehen. Das betrifft nicht nur Pflegedienste oder Kitas, sondern ebenso die Verkehrsinfrastruktur oder, wie hier argumentiert, die Versorgung mit all dem, was in Familien oder Wohngemeinschaften täglich gebraucht wird. Zum anderen sollen in der Sorgenden Stadt Unterstützung und im Wortsinn Raum für kollektive Lösungen der Sorgeaufgaben entstehen, die aktuell Kleinfamilien und alleine Lebenden zugewiesen sind. Im Fall der Sorgenden Stadt (Gabriele Winkers Buch argumentiert schon von der gesamtgesellschaftlichen Ebene aus) ist allerdings zu beachten, dass die Rahmenbedingungen der Sorgeaufgaben nicht nur lokal geschaffen werden können: Über Sozialversicherungssysteme oder Migrationsregime beispielsweise wird auf nationalstaatlicher oder EU-Ebene entschieden. All dies mitbedacht, geht es beim Einstieg in die feministische Vergesellschaftung auch um den Einstieg in eine Produktionsweise, in der weder eine Zuweisung von Care-Arbeiten nach Geschlechter-, klassistischen und rassistischen Normen stattfindet noch überhaupt die Spaltung der Ökonomie in einen Bereich entlohnter und einen unentlohnter Arbeit beibehalten wird.

Erste Schritte

Auch wenn es mich als ehemaligen Supermarktarbeiter sehr freuen würde, ist es sicher nicht realistisch, mit der Vergesellschaftung bei Supermärkten zu beginnen. Bereiche, die von beliebig vielen ohne Kostensteigerung genutzt werden können (z.B. elektronische Medien), in denen Konkurrenz zu Effizienzverlusten führt (Verkehrs- oder Stromnetze), die gut in Eigentätigkeit außerhalb von Betrieben gestaltbar sind (Angebote von Stadtteilläden) oder wo es ein staatliches Nachfragemonopol bzw. festgesetzte Preise gibt (Gesundheitsversorgung, Pflege, Schule…) bieten sich eher zum Einstieg an. Weil jedoch Supermärkte im Stadtteil so wichtig sind, sollten sie sich zumindest in eine Vergesellschaftungsbewegung integrieren lassen: Durch Beteiligung von Beschäftigten an der Beschreibung, wie ein solidarisches, ökologisch tragfähiges, freudvolles Zusammenleben im Stadtteil auch ginge. Durch einen Stammtisch von ver.di-Betriebsgruppe und Kund*innen. Und ganz praktisch: Durch Unterstützung bei Arbeitskämpfen, einer Betriebsratsgründung oder ähnlichem – auf dass Supermärkte irgendwann selbstorganisierter Teil sorgender Städte sind!

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