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Wohnen – ein menschliches Grundbedürfnis

Aktuelles – 01. September 2024 – Debatte

Zum Engagement von Care Revolution Rhein-Main und seinen Hintergründen

Eine der zentralen Rahmenbedingungen von Sorgebeziehungen ist die Wohnsituation. In Frankfurt als Paradebeispiel für enthemmten Kapitalismus ist dies ein wichtiges Thema für Care-Aktivist*innen. Ein Bericht von Elfriede Harth (hier auch als PDF)

Wohnen  – ein menschliches Grundbedürfnis

Als Care Revolution Aktivist:innen in der Regionalgruppe Rhein-Main liegt das Thema Wohnen ziemlich hoch in unserern Prioritäten. Denn gerade Menschen, die auf Carearbeit angewiesen sind, in Careberufen tätig sind und Carearbeit nicht delegieren können, mangels finanzieller Mittel, sind besonders von der sich verschärfenden Wohnungskrise betroffen. Wohnen ist nämlich zu einer wichtigen Sparte des Rentier-Kapitalismus[1] geworden, d.h. es soll vor allen Dingen Profite generieren und die Interessen von Shareholdern befriedigen.

Frankfurt liegt, was die Lebenshaltungskosten angeht, an dritter Stelle in Deutschland, was den hohen Mieten geschuldet ist. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum 65% der Menschen, die in Frankfurt einer Erwerbstätigkeit nachgehen, auswärts wohnen. Dazu zählen auch gerade Menschen, die einen Careberuf ausüben: Pflegende, Erzieher:innen, Krankenhauspersonal, Reinigungskräfte, etc.. Alles Berufe, die unmittelbar mit dem Menschen, dem menschlichen Körper zu tun haben, also Nähe voraussetzen und nicht in Telearbeit erbracht werden können. Sie gehören zu den Erwerbsarbeitenden mit niedrigerem Einkommen, entweder weil diese Berufe schlechter entlohnt werden oder weil sie so anstrengend sind, dass Vollzeit für viele nicht leistbar ist oder aber, weil diese Menschen noch privat so viel Careverantwortung haben, dass sie nur einen geringeren Teil ihrer Zeit verkaufen können, um damit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Der Großteil dieser Carearbeitenden sind Frauen. Grüße vom Gender Pay Gap und dem Gender Pension Gap[2]! Die Entfernung vom Erwerbsarbeitsplatz bedeutet unbezahlte Pendelzeit, die anderweitig eingespart werden muss, es ist Lebenszeit. Ganz abgesehen von den Umweltschäden, die durch Transport verursacht werden (können). Bezahlbare Wohnungen in Frankfurt sind Mangelware und werden es immer mehr. Und dabei stehen Wohnhäuser und auch Bürohäuser leer, die zu bezahlbarem Wohnraum umgebaut werden könnten.

Ca. 52% der Haushalte in Frankfurt bestehen aus nur einer Person. Dazu zählen viele Haushalte von älteren Menschen, die einen Großteil ihres Lebens in Frankfurt gelebt haben und für die ihr gewohntes Umfeld besonders wichtig ist. Und Wohnen ist nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern auch, und besonders im Alter, das Gefühl, daheim zu sein, dazu zu gehören. Nicht wie eine Last entsorgt zu werden.

Natürlich wandelt sich eine Stadt im Laufe der Zeit, aber dieser Wandel darf nicht „dem Markt“ – und das bedeutet jetzt: dem Rentierkapitalismus – überlassen werden, sondern es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, dass die Betroffenen die Veränderung mitgestalten können, dass nicht über ihren Kopf hinweg entschieden wird, sondern ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. Es braucht Care-Räte, in denen die wichtige Frage der Wohnung einen zentralen Teil der Agenda darstellt.

So haben wir z.B. Aktionen unterstützt, bei denen langjährigen Mieterinnen gekündigt und eine Zwangsräumung angeordnet wurde, durch die sie aus ihrer Wohnung vertrieben werden sollten, um Veränderungen vorzunehmen, denen sie so nicht zustimmen konnten, weil sie dadurch ungerechtfertigte große Nachteile hätten erleiden müssen. Oder weil sie als Widerständlerin gegen Gentrifizierung oder ähnliche Projekte gebrandmarkt und gemobbt wurden. Zwangsräumungen sind einfach keine Lösung. Es ist jedoch (noch) ein Kampf von David gegen Goliath.

Denn Frankfurt hat, wie viele andere Städte in Deutschland, das Thema Wohnen „dem Markt überlassen“. Und weil Frankfurt und das Rhein-Main Gebiet allgemein, ein wichtiger wirtschaftlicher Standort ist, als Bankenstadt und mit einem der wichtigsten Flughäfen auf dem europäischen Kontinent, mit Unternehmen in der Kreativwirtschaft, IT-und Telekommunikationsbranche, Biotechnologie und Life Sciences, Logistik und auch immer noch Industrie, wächst die Bevölkerungszahl kontinuierlich und mit ihr der Bedarf an Wohnungen.

Aber die Stadt hat den sozialen Wohnungsbau vollkommen vernachlässigt, obwohl es drei Wohnungsbaugesellschaften gibt, die großteils der öffentlichen Hand gehören. Die Zahl der Wohnungen, die aus der Sozialbindung herausfallen, übersteigt um vieles den Neubau solcher Wohnungen. Und gebaut wird, auch von den Wohnungsgesellschaften in öffentlicher Hand, besonders für den hochpreisigen Markt.

Daher haben wir uns dem Bündnis mietenwahnsinn Hessen angeschlossen und unterstützen alle Aktionen, die dort angestoßen werden. Gegenwärtig ist das z.B. der Versuch, auf die von der neuen schwarz-roten Koalition des Landes Hessen geplanten Gesetzgebung in Sachen Wohnungsbau Einfluss auzuüben, damit bezahlbarer Wohnraum entsteht. So können die Gelder, die für Wohngeld ausgegeben werden, in Wohnungsbau investiert werden. Denn Wohngeld ist nichts Weiteres als eine Subvention für Vermieter und eine Massnahme, die durch die damit verbundene Bedarfsprüfung auch noch hohe Bürokratiekosten verursacht, die ebenfalls eingespart und in den Wohnungsbau, bzw besser noch in die Sanierung und Erneuerung der Bestandsimmobilien investiert werden könnten. Und die Zahl des Leerstands („rühr nicht an mein Eigentum!“) ist erschreckend.

Als Care-Aktive sind uns die Wohnbedürfnisse von Familien und von Menschen mit Behinderung, also von Menschen mit besonders hohem Bedarf an privater oder aber auch professioneller Carearbeit, ein besonders Anliegen. Große familiengerechte Wohnungen sind sehr rar. 12% der Haushalte in Frankfurt bestehen aus mindestens vier Personen. Meistens sind das Familien mit Kindern. Hochpreisige Wohnungen sind in der Regel sehr geräumig. Denn je reicher ein Haushalt, desto mehr Raum wird beansprucht. Aber viele Familien, die ja Familienmitglieder haben, für die ein Erwerbsarbeitsverbot gilt, weil es sich um Kinder und minderjährige Jugendliche handelt, müssen mit dem Einkommen der Erwachsenen mehr Mäuler stopfen. Und häufig erschwert der mit der höheren Zahl an Familienmitgliedern entsprechend höhere Bedarf an unbezahlter Carearbeit die Ausübung eines bezahlten Jobs in Vollzeit für einen der beiden Erwachsenen dieser Familie. Wenn es denn überhaupt zwei und nicht nur einen Erwachsenen gibt. Und fast immer sind es wieder Frauen, nämlich die Mütter, die mit Gender Pay Gap und Gender Pension Gap abgestraft werden. Aber auch die ganze Familie leidet darunter, denn große, familiengerechte Wohnungen sind rar und sehr selten bezahlbar. Und so müssen sich viele Familien mit knappem Wohnraum begnügen, was z.B. in Coronazeiten besonders belastend war.

Ähnlich ergeht es Menschen mit Behinderung. Das sind einerseits wieder Familien mit einem körperlich beeinträchtigten Kind, das Barrierefreiheit braucht, oder ältere Menschen, die mit dem Alter z.B. nicht mehr in oberen Stockwerken leben können, wenn im Haus kein Aufzug vorhanden ist. Es gibt viel zu wenige solcher Wohnungen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass ein unbebautes Grundstück mitten in einem beliebten Viertel Frankfurts (Bornheim) unbedingt mit barrierefreien Wohnungen und ggf der einen oder anderen größeren familiengerechten Wohnung bebaut wird. Nur für solch ein Vorhaben soll es eine Genehmigung geben.

Wir leben gerade in einer Zeit des Umbruchs. Die wachsende Klimakrise zwingt uns dazu, vieles zu überdenken und zu verändern. Die Industrialisierung hatte die Trennung von Erwerbsarbeit und Wohnung verursacht. Mit der Entstehung der „Fabrik“, einem Ort, an dem viele Lohnabhängige zusammenkamen, um den größten Teil des Tages mit einer fremdbestimmten Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wurde die Wohnung zum Ort der – meist nächtlichen – Erholung davon, eben zum Ort der „Reproduktion“ dessen, was man zur Sicherung des Lebensunterhalts vermarkten konnte, nämlich der eigenen Arbeitskraft. Die Wohnung ist der wichtigste Ort für private, unbezahlte Carearbeit.

In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg wurde das Auto gerade in Deutschland der Motor für das Wirtschaftswunder. Der Städtebau richtete sich voll darauf aus und so entstand eine Art Ghettoisierung der verschiedenen Lebensbereiche. Lebten vorher die Fabrikarbeiter in Laufnähe von der Fabrik, konnten sich nun Vororte entwickeln, in denen die Menschen „wohnten“, dann Industriebezirke,  Einkaufszentren, etc.. die oft weit voneinander entfernt, aber gut mit dem Auto erreichbar waren. Die Größe der Haushalte nahm ab, die Zahl der Einpersonenhaushalte stieg. Und der Bedarf an Wohnungen wuchs entsprechend, zusammen mit wachsender Vereinzelung, Anonymisierung, Mobilität. Alles das ging einher mit einem wachsenden Ressourcenverbrauch, denn jede Wohnung brauchte eine eigene Küche mit allen dazu gehörenden Gerätschaften und elektrischen Geräten (Kühlschrank, Herd, Spülmaschine, Mikrowelle..) sowie ein Bad, eine Waschmaschine, einen Trockner etc..

Zu der Klimakrise kam nun der Krieg in der Ukraine dazu und löste eine Energiekrise aus. Die Notwendigkeit eines Umdenkens in der Wohnungspolitik läßt sich nicht mehr wegschieben. Es muss hier beherzt der Verbrauch fossiler Energien heruntergeschraubt und überhaupt Energie eingespart werden, nicht nur in den Wohnungen, sondern auch was die Mobilität anbelangt. Das betrifft z.B. das lange Pendeln und den individuellen Autoverkehr.

Infrastrukturen öffentlicher Daseinsvorsorge müssen in ausreichender Nähe sein. (Stichwort: die Stadt der Viertelstunde  – https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/programme/refo/staedtebau/2023/stadt-der-viertelstunde/01-start.html ) Das erspart kostbare Zeit besonders für private Carearbeit (Einkaufen, Kinderbetreuung und Bildung, Arztbesuche und andere tägliche Erledigungen des modernen Lebens).

Inzwischen entstehen in Frankfurt immer mehr Projekte gemeinschaftlichen Wohnens. Menschen bilden Gemeinschaften, um nachhaltiger zusammenleben zu können. Ein solches Projekt ist das NIKA-Haus in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs. Mit Unterstützung des Mietersyndikats wurde es dem Wohnungsmarkt entzogen und zu Wohnungen unterschiedlicher Größe umgebaut, in denen Einzelpersonen und Familien zusammenleben wollten. Nicht nebeneinander, sondern miteinander. Dadurch wurde der Gebrauch von bestimmten Haushaltsgeräten rationalisiert: Nicht jeder Haushalt brauchte nun eine Waschmaschine, die öfter unbenutzt als benutzt Platz in einem Bad oder einer Küche brauchte, sondern es wurde Waschmaschinen-Sharing eingeführt. Im Erdgeschoss gab es einen zur Straße hin offenen Raum, der progressiven Gruppen und Initiativen in der Stadt zur Verfügung gestellt wurde, um ihnen zu ermöglichen, sich zu treffen und über gesellschaftlichen Transformationen nachzudenken und Aktionen zu planen.

Schon zu Beginn des Projekts wurde unsere Care Revolution Regionalgruppe eingeladen, um zu diskutieren, wie bestimmte Caretätigkeiten gerecht organisiert werden könnten. Besonders die Reinigung der gemeinschaftlichen Räume, der Treppen, des Kellers etc. stand auf der Agenda. Welche Standards von Sauberkeit und Ordnung sollten beschlossen werden, wer würde die Verantwortung dafür übernehmen usw. Eigentlich war es doch Aufgabe eines jeden Bewohners des Hauses, zumindest ab einem bestimmten Alter. Waren Putzpläne die Lösung? Aber dabei wurde bemerkt, dass es eine finanzielle Ungleichheit zwischen den Bewohnern gab, weil manche einer Erwerbsarbeit nachgingen, die ihnen ein hohes Einkommen bescherte, andere – eigentlich eine Person – hingegen nur über ein prekäres Einkommen verfügten. Sollte man da nicht die Gelegenheit nutzen, einen formalen Erwerbsarbeitsplatz für die Prekäre einzurichten, der ihr ein sicheres Einkommen bescherte? Oder sie zu entlohnen mit einer niedrigeren Miete?

Wir schlugen ein anderes Modell vor: Hygienestandard musste gemeinsam festgelegt werden. Und alle Erwachsenen sollten die Zeit aufbringen, die notwendige Carearbeit zu leisten. Wenn jedoch jemand die eigene Erwerbstätigkeit für so wichtig hielt, dass er oder sie nicht bereit waren, die Zeit, die sie dafür verbrauchten, zu reduzieren, um den eigenen Anteil an Carearbeit zu leisten, dann sollte er oder sie nicht die Arbeitskraft einer anderen Person zu einem bestimmten Marktpreis kaufen (dem festgesetzten Lohn), um die eigene zu erbringende Carearbeit an sie zu delegieren. Stattdessen sollte er oder sie sich die durch Nichterbringen der eigenen Carearbeit eingesparte Zeit bei der „Ersatzperson“ kaufen. Und zwar zu dem Stundenpreis, den sie selber bei Ausübung ihrer so sehr wertgeschätzten Erwerbsarbeit verdienten. Somit würde nicht die unbezahlt zu erbringende Carearbeit zu einer Ware werden, die zu einem festgelegten Preis verkauft werden konnte, sondern es würde sich jemand Zeit kaufen. Und zwar zum Marktpreis, zu dem die eigene Zeit auf dem Markt gehandelt wurde. Damit würde transparent gemacht, dass die Zeit von manchen Menschen mehr wert ist auf dem Markt als die Zeit von anderen Menschen. Dass aber unbezahlte Carearbeit eben keine Ware ist, sondern eine notwendige Tätigkeit wie das Atmen oder Schlafen, für die sich jede und jeder die notwendige Zeit nehmen muss. Deshalb müssen die Bedingungen geschaffen werden, dass das auch möglich ist.

Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Klimakrise: Energiekrise, digitale Revolution, demographischer Wandel, wachsende soziale Ungleichheit, Kriege, usw… wir müssen zusammen überlegen, wie wir leben wollen, damit alle ein gutes Leben haben. Damit die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt werden. Zum Beispiel was Wohnen angeht. Wohnen in unserer Stadt. Als Aktive im Netzwerk Care Revolution ist das eines unserer Aktionsfelder. Mit dem Ziel, eine Care zentrierte Gesellschaft zu gestalten.

[1] Rentier-Kapitalismus: Ökonomie, die zentral auf die Verwertung der Anlagen aus umfangreichen Geldvermögen ausgelegt ist. Ähnlich: Finanzmarktkapitalismus (d. Red.)

[2] Abstand der Lohneinkommen bzw. Renten zwischen Männern und Frauen (d. Red.)

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