Nachlese zu einem Care-Revolution-Themenabend im November 2016 in Potsdam.
Care-Berufe endlich gerecht bezahlen und langfristig absichern? Über die Grenzen von Ausbildung, Wirkungsbereich und Vorstellungen von der ‚richtigen‘ Versorgung hinweg Bündnisse eingehen? Oder doch erst mal überhaupt eine menschenwürdige Grundversorgung, für alle, vor allem für Geflüchtete fordern? Die Menschen im Netzwerk Care Revolution haben sich viel vorgenommen. Und immer mal wieder scheitern sie an ihren eigenen Ansprüchen. Macht nix? Macht viel! Lernen wir daraus, stehen wir auf und machen weiter!
„Die Leute sind erschöpft vom permanenten Rennen im Hamsterrad.“
Gründungsmitglied Barbara Fried wirft zunächst ein Licht auf die Care Revolution als Transformationsstrategie, um die Krise der sozialen Reproduktion zu überwinden. Denn 30 Jahre Neoliberalismus haben dazu geführt, dass Menschen und soziale Infrastrukturen völlig ausgepowert sind.
Einerseits ist das das Ergebnis von Überstunden, Wettbewerb und Leistungsdruck. Sie sind die Kennzeichen eines Lohnarbeitssystems, in dem nicht nur Erwerbstätige sich abrackern, sondern dem auch erwerbslose Menschen als vermeintlich asozial gegenüber stehen. Es ist ein ausquetschendes System: Viele Menschen, z.B. in der Pflege und Betreuung, schaffen es gar nicht bis zum gesetzlich festgelegten Renteneintrittsalter. Andere dagegen werden in den Mühlen der Arbeitsagenturen aufgerieben.
Andererseits führt die kontinuierliche Privatisierung von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen dazu, dass mehr und mehr Sorgeverantwortung auf die Individuen rückübertragen wird. Dies erhöht ebenfalls die Arbeitslast – und verteilt sie ungerecht. Denn erstens ist gute Pflege und Sorge heute (wieder) mehr und mehr vom Geldbeutel abhängig, weil sie als bezahlte Dienstleistung angeboten wird. Zweitens wird sie (erneut und zunehmend) in die Privathaushalte ausgelagert, wo sich zumeist Frauen unentgeltlich um ihre Angehörigen kümmern – neben der Lohnarbeit und dem Haushalt, versteht sich. Die Anstellung (meist) migrantischer Frauen für Privathaushalte ist u.a. ein Phänomen, das auf diese erhöhte Arbeitslast folgt – und es macht sexistische und rassistische Strukturen in dieser Gesellschaft erkennbar. Bezahlte und unbezahlte Arbeit der sozialen Reproduktion sichtbar zu machen, aufzuwerten und für Strukturen zu streiten, die eine gute Versorgung aller in gesellschaftlicher Verantwortung garantieren, ist daher das Ziel der Care Revolution.
Das soziale Gefüge ist erschöpft und die Leute sind erschöpft in einem System, das menschliche Bedürfnisse an letzter Stelle stellt. Es ist ein System sozialer Spaltungen, die es zu überwinden gilt. Auch das ist das Ziel der Care Revolution.
„Die Asylgesetze wurden 2015/16 in einem Ausmaß verschärft, wie wir es uns vor ein paar Jahren nicht hätten vorstellen können.“
Elisabeth Ngari hat zusammen mit anderen geflüchteten Frauen 2002 in Potsdam Women In Exile gegründet. Die Frauen organisieren sich selbstständig, um sich gegen die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in den Sammelunterkünften, die sie als Lager bezeichnen, zu wehren. Gemeinsam mit Damarice Okore zeigt Ngari die Kurzdoku WOMEN IN EXILE und berichtet von der Arbeit des Vereins.
Women in Exile besuchen regelmäßig Sammelunterkünfte, bzw. Flüchtlingslager, wo sie die Zustände dokumentieren. Erst kürzlich haben sie einen offenen Brief der Frauen aus dem Lager in Henningsdorf veröffentlicht. Darin heißt es:
„In nur 12 qm großen Zimmern leben Mütter mit ihrem Kind, vier Frauen müssen sich ein 24 qm kleines Zimmer teilen. Da wir gemeinsam mit Männern auf einem Flur leben, kommt es zu Belästigungen und sexualisierter Gewalt. Eine persönlich betroffene Frau wurde trotz des traumatischen Ereignisses auf einem Gang, auf dem sonst nur Männer leben, untergebracht. Unsere Kinder trauen sich nicht, allein zur Toilette zu gehen. Es fehlt an Privatsphäre, nicht nur weil wir beengt miteinander leben müssen, sondern z.B, auch weil muslimische Frauen bei jedem Gang zur Küche ihren Hijab anlegen müssen. Der Landkreis als Betreiber der GU [d.i. Gemeinschaftsunterkunft] zeigte bisher keinerlei Interesse, sich um Schutzräume und Wohnungen für uns zu bemühen. Aufgrund der noch schlechteren Bedingungen in dem neuen Haus fühlen wir uns nicht nur in unserem Anliegen nicht berücksichtigt, sondern regelrecht beleidigt.“
Frauen und Kinder sind in den Sammelunterkünften besonders gefährdet – sexualisierte Gewalt, Missbrauch und Schikane sind an der Tagesordnung. Deshalb fordern Women In Exile nicht nur eine schnellstmögliche Unterbringungen in Wohnungen, sondern auch, dass sie in organisatorische Entscheidungen in den Sammelunterkünften einbezogen werden:
„Aus diesem Grund fordern wir die Unterbringung von Frauen, Kindern und Familien in Wohnungen, die uns schützen, nach einem maximalen Aufenthalt im Lager von 6 Monaten.[1] In diesen 6 Monaten fordern wir die Nutzung eines Hauses ausschließlich für Frauen auf dem Gelände in Stolpe-Süd. Wir wollen in die Zimmerbelegungen miteinbezogen werden, um Konflikten vorzubeugen. Um den Umzug in Wohnungen zu erleichtern, sollte der Landkreis die Kosten der Unterkunft an den realen Mietspiegel anpassen“
Women In Exile & Friends organisieren Floßtouren durch ganz Deutschland und Demonstrationen, um auf die Lage Geflüchteter aufmerksam zu machen. Außerdem geben sie Empowerment-Workshops, um geflüchtete Frauen über ihre Rechte aufzuklären und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie sich wehren können. Die meisten leisten ausschließlich freiwillige, unbezahlte Arbeit, da viele engagierte Frauen keine Arbeitserlaubnis haben. Sie machen klar, dass sie sich insbesondere hier Hilfe aus dem Netzwerk wünschen.
„Ich gehe in die Klinik und die Hebamme hat für mich keine Zeit. Das kann nicht sein.“
Martina Schulze berichtet von einem gefährdeten Sorgeberuf: dem Hebammenwesen. Die Vorsitzende des Brandenburger Hebammenverbandes betont, dass nicht nur die Haftpflichtproblematik[2] für freiberufliche Hebammen, sondern die Arbeitsbedingungen insgesamt für alle zermürbend sind. Schulze berichtet, dass der Bedarf an Hebammen derzeit in Brandenburg nicht abgedeckt werden kann. Es gibt Nachwuchsprobleme. Der Verdienst ist sehr gering und rentabel wird Geburtshilfe nur durch medizinische Interventionen. Es kommt vor, dass Hebammen bis zu vier Geburten gleichzeitig betreuen. Dies gewährleistet keine sichere Geburt und hat zur Folge, dass die Kolleginnen zunehmend ausgebrannt sind. Das Wochenbett beträgt normalerweise mindestens zehn Tage. Es wird heute zunehmend nach Hause ausgelagert, denn für die Pflege gibt es noch weniger Geld, als für die Geburtshilfe. Hinzu kommt, dass immer mehr Kliniken, bzw. Geburtsstationen ersatzlos schließen. Insbesondere in den dünnbesiedelten Gebieten in Brandenburg ist das problematisch. Schulze appelliert an die betroffenen Frauen, zu protestieren: „Ich gehe in die Klinik und die Hebamme hat für mich keine Zeit. Das kann nicht sein.“ Doch nicht nur Mütter und Eltern, auch die Hebammen selbst sind schwer zu mobilisieren; in einem Flächenland, wie Brandenburg ist es vom äußersten Norden kurz vor Mecklenburg Vorpommern bis zum südlichen Rand im Spreewald eine weite Strecke. Für eine umfassende Darstellung der bundesweiten Problematik empfiehlt Schulze den Dokumentarfilm Einsame Geburt – Hebammen in Not.
Warum wird den Hebammen eine so große Haftpflichtversicherung auferlegt? Möglicherweise ist es eine Machtfrage: Hebammen sind der einzige Medizinalberuf, der ohne fachärztliche Anweisung tätig werden kann. Das scheint den Ärzten oft ein Dorn im Auge zu sein. Die Ärztelobby ist groß. Nachweisbar spielen allerdings andere Gründe eine Rolle: Der Fötus im Bauch ist eine Blackbox und daher ist das Risiko für die Versicherer kaum zu taxieren. Nicht die Anzahl der Schäden, aber die Schadenszahlungen sind gestiegen. Zudem sind Hebammen eine sehr kleine Versichertengruppe, daher verteilt sich das Risiko auf viel weniger Schultern.
„Die Versicherungen kapitalisieren die Angst der Eltern“
Eine Diskussion entspinnt sich: Auch Ärzte müssen ja die Haftpflicht bezahlen. Kann es einen Schulterschluss bei der Haftpflichtproblematik geben? Kann nicht auch der Widerstand gegen die DRG’s[3] ein Anlass sein, um gemeinsam für eine bessere Versorgung von Patient_innen, sowie bessere Arbeitsbedingungen und eine gerechtere Vergütung voranzugehen? Denn das Problem ist die Ökonomisierung der Medizin.
Aus der Pflege kennt eine Person, dass alle gegeneinander arbeiten. Da wäre ein Zusammenschluss schon innerhalb der Gruppen ein großer Gewinn. Politischer Output komme aber nur von den Männern. Frauen müssten motiviert werden. Sie werden unterdrückt, aber „sie lassen auch mehr zu als Männer“, meint er. Dagegen regt sich Widerstand in der Diskussionsrunde. Es wird darum gebeten, gesellschaftliche Spaltungen nicht dadurch zu wiederholen, dass die Klischees wiederholt werden. An der heutigen Veranstaltung sei dagegen zu sehen, dass Frauen sich durchaus zu Wort melden und sich organisieren. Es wird appelliert, auf der strukturellen Ebene anzusetzen, anstatt Widersprüche zu personalisieren und vielmehr gemeinsam gegen das problematische System aktiv zu werden. Eine weitere Person meldet sich zu Wort: „Frauen haben heute immer noch mehr zu wuppen [als Männer], da ist es kein Wunder, wenn sie sich weniger politisch engagieren.“ Stattdessen müsse man die Frauen da abholen, wo sie stehen, fügt sie hinzu.
„Wo soll ich anfangen mit euch zu diskutieren? Die Situation ist für geflüchtete Frauen so viel anders!“
Geflüchtete Frauen bekommen ihr Kind und gehen am Tag drauf zurück ins Lager. Dort sind sie mit allen Problemen allein. Es gibt meist gar keine Hebammen. Die Wege zu den Gemeinschaftsräumen (Bad, Küche) sind weit. Oft lassen sie ihre Babies notgedrungen allein im Zimmer zurück. Denn in den Gemeinschaftsräumen gibt es gefährliche Situationen; Übergriffe und Streitigkeiten sind an der Tagesordnung. Den Frauen fehlen die Netzwerke.
Können aus der Perspektive von Geflüchteten Forderungen formuliert werden, die den politischen Forderungen der Hebammen hinzugefügt werden? Wir müssen lernen, unterschiedliche Lebenssituationen mitzudenken. Ist das in der Pflege ähnlich? Denkt ihr die Situation von Geflüchteten mit?
Eine Person fragt zurück: Warum wollen Geflüchtete nicht ins Krankenhaus? –
Weil viele schlechte Erfahrungen, z.B. mit Ärzten, gemacht haben, die aus ihrem Alltagsrassismus keinen Hehl machen.
Das spricht sich herum. Weil die Hürden äußerst hoch sind, Informationen zu bekommen, sich zu wehren, oder auch nur den Arzt bzw. das Krankenhaus zu wechseln, ist das ein Grund, von den Krankenhäusern fernzubleiben.
Das sei doch kein richtiger Grund, ist da zu hören. In der Diskussionsrunde wird die Empörung spürbar. Zunächst einmal wird klargestellt, dass es nur in Notfällen eine Krankenversorgung für Geflüchtete gibt. Außerdem ist es wichtig, dass schlechte Erfahrungen nicht herunter gespielt, sondern ernst genommen werden. Nur dann sind Bündnisse und ein gemeinsames Ringen um verbesserte Bedingungen für alle möglich.
„Die Leute werden gegeneinander ausgespielt, anstatt für eine bessere Care-Situation zu sorgen.“
Die Spaltungen werden auch an diesem Abend nur schwer überwunden. Es wird um Worte gestritten, um Anerkennung und um Respekt. Es fallen teils sexistische und rassistische Bemerkungen. Diese mögen unbedacht und vielleicht auch ungewollt sein – weniger schmerzhaft für die Adressierten waren sie darum nicht. Dass wir als Organisatorinnen es am Anfang versäumt haben, klare Kommunikationsregeln aufzustellen, macht es nicht einfacher. Obwohl wir diese im Verlauf des Abends einfordern, halten sich nicht alle daran. Der Konflikt ist kaum mehr aufzulösen, trotzdem werden an diesem Abend wichtige Einsichten gewonnen – und sei es, wie kompliziert es ist, Herrschaftsverhältnisse zu überwinden, die uns permanent gegeneinander stellen. Dazu müssen wir auch uns selbst verändern – aber längst nicht nur uns!
Deshalb soll in Potsdam trotzdem – oder erst recht! – weitergemacht werden. Als mögliche gemeinsame Vorhaben steht die Unterstützung von verschiedenen Aktionen im Raum: Am 8.März zum Frauentag, wenn Women In Exile auf die Straße gehen; im Spätsommer, wenn der Hebammenverband mit einem Infobus zur Bundestagswahl durch die Republik tourt. Oder zur Wandelwoche Berlin-Brandenburg im September 2017, wenn die Nachhaltigkeitsszene sich mit den Fokusthemen „Teilhabe von Geflüchteten“, „Klimagerechtigkeit“, „Orte des guten Lebens“ und „selbstbestimmt Arbeiten“ auseinandersetzt – und die Care-Perspektive da unbedingt dazu gehört. Ein nächstes Vernetzungstreffen wird für Anfang 2017 geplant. Der Termin steht noch nicht endgültig fest, deshalb gibt es weitere Infos über Treffen und sonstige Vernetzungsideen unter: care-revolution@riseup.net
Dokumentation des Arbeitstreffens am 08.07.2016 zur Vorbereitung der Veranstaltung sind hier zu finden.
[1] § 47 Asylgesetz sieht eine Pflicht Asylsuchender zum Wohnen in einer Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) für „bis zu sechs Wochen, längstens jedoch bis zu sechs Monaten“ vor.
[2] 2003 betrug die jährliche Haftpflichtprämie für Hebammen 1352,56 Euro; seitdem ist sie kontinuierlich gestiegen bis auf 6843,00 € im Juli 2016 und wird weiter ansteigen. Diese hohe Summe können sich immer mehr Hebammen auf Grund ihres geringen Einkommens nicht mehr leisten.
[3] DRG= Diagnose Related Groups, deutsch: Diagnose bezogene Fallgruppen, nach denen Leistungen bei den Krankenkassen pauschal abgerechnet werden.