Ein Diskussionsbeitrag von Gisela-Ingrid Weissinger, aktiv bei Care Revolution Dortmund, zum Aufruf „Gemeinsam aus der Corona-Pandemie lernen – für solidarische und nachhaltige Lebensweise“.
Dem Aufruf „Gemeinsam aus der Corona-Pandemie lernen – für solidarische und nachhaltige Lebensweisen streiten“ stimme ich uneingeschränkt zu. Der folgende Beitrag ist als Ergänzung des Aufrufs verstanden und als Versuch, Veränderungen zu benennen, deren Notwendigkeit die Pandemie unübersehbar vor Augen geführt hat.
In der medialen Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie erscheint mir auffallend das Fehlen der Frage, ob und wenn ja welche Ursachen, Verbindungen und Zusammenhänge es zwischen dieser Pandemie und den vorausgegangenen Epidemien gibt: Gibt es einen Zusammenhang, der dieses Virus möglicherweise als Zuspitzung der vorausgegangenen Viruserkrankungen (Sars, Ebola u.a.) erkennbar macht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Pandemie und der Umwelt- bzw. Klimakrise? Wiederholt wurde die Vermutung geäußert, dass es eine Verbindung zwischen der Einschränkung des Lebensraums von Wildtieren und dem Ausbruch der Pandemie gibt. Sollte etwas davon zutreffen, ist das ein Hinweis darauf, dass die Klimakrise bereits jetzt schon ungeahnte Ausmaße angenommen hat.
Die mit dem ökonomischen Stillstand verbundene Sorge von Unternehmen, Politik und Beschäftigten um den Einbruch des Absatzes und der Gewinne: Eine auf Absatzsteigerung und Einnahmegewinnen basierende Wirtschaft ist immer und per se gleichermaßen zerstörerisch und fragil. Rohstoffe werden ausgebeutet, Ressourcen vernichtet. Produkte werden erzeugt, die niemand braucht. Beschädigte Produkte werden, anstatt sie zu reparieren, weggeworfen. Als veraltet geltende, ebenfalls, statt sie zu aktualisieren (exportiert als Müll oder verkauft in sog. Entwicklungsländer). Dieses Wirtschaftssystem ist ein auf der Produktion von Müll und Umweltzerstörung basierendes System, dessen Schäden die zu tragen haben, die sie nicht verursacht haben. Und doch wird versucht, mit riesigen Summen und vermutlich voreilig dieses zerstörerische System wieder zum Laufen zu bringen, auch wenn damit Infektionen und Menschenleben riskiert werden.
Folgende Veränderungen halte ich für notwendig
1. Nötig ist eine Energie, Ressourcen und Umwelt sparende Produktion langlebiger und reparabler Erzeugnisse zur Befriedigung der Grundbedürfnisse Aller. (Auch Smartphones, Laptops und Drucker müssen langlebig und reparabel sein.)
2. Nötig ist, neben dem Erlernen der Fähigkeit, einfache Reparaturen vorzunehmen, auch (in allen Schulen) ein Erlernen handwerklicher und alltagstauglicher Fähigkeiten (z.B. Kochkenntnisse statt Fast Food).
3. Kinder und Jugendliche müssen ihre Begabungen und Interessen entdecken und ausbilden können, die nicht allein und in erster Linie der Erwerbsarbeit dienen, denen kein Verwertungsinteresse zugrunde liegt: Musizieren, Lesen, Malen, Fotografieren, Werken etc., kulturelle Fähigkeiten und Interessen. (Die sog. Decke fällt denen am ehesten auf den Kopf, die nichts anzufangen wissen mit verpflichtungsfreier Zeit).
4. Nur eine Transformation der vorrangig auf Güterproduktion und Gewinn ausgerichteten Wirtschaft zu einer auf die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse, Umwelt und Klima schonenden Wirtschaft kann zur Herstellung von gerechten, den Bedürfnissen aller Menschen entsprechenden Lebens- und Arbeitsverhältnissen beitragen.
5. Alle Güter der allgemeinen Daseinsvorsorge gehören in die öffentliche Hand. Welche gesellschaftlich notwendigen Güter und Dienstleistungen (Schulen, Kitas, Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser, Müllabfuhr, Büchereien und kulturelle Einrichtungen etc.) zentral zu organisieren und herzustellen sind und welche dezentral, muss auf kommunaler, auf Kreis- oder Landesebene unter Beteiligung engagierter Bürger*innen und von Fachleuten, geprüft und transparent neu entschieden werden. Da, wo eine Privatisierung in der Vergangenheit erfolgte, ist diese rückgängig zu machen.
6. Die allgemeine Mobilität muss durch die kostenfreie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und die Abschaffung des privaten PKW-Besitzes gewährleistet werden. Flüge müssen auf umweltschonende Langstreckenflüge beschränkt werden.
7. Wohnen: Zu den durch die Corona-Krise verschärften Problemen gehört der Zugang zu Wohnraum. Wer die Möglichkeit hat, in einer geräumigen Wohnung mit Garten zu leben, kann die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit besser ertragen als diejenigen, die angewiesen sind auf eine kleine Wohnung ohne Balkon oder Garten, erst recht als Familie oder allein erziehend mit kleinen Kindern. Die Corona-Krise hat die unhaltbare Verteilung von Wohnraum, sowie den ungleichen Zugang zu frischer Luft und Grünflächen drastisch vor Augen geführt. Lösungen können keine am Reißbrett entworfenen Wohnquartiere sein. Mir schwebt eine öffentlich geförderte, an Klima- und Umweltschutz sowie Energieeinsparung orientierte Entwicklung von Mehrgenerationen-Lebensprojekten vor, die aus einer Mischung von gemeinschaftlich und privat genutztem Raum bestehen und unter Beteiligung derer, die den Raum nutzen werden – die Realisierung verschiedener Modelle (keine Einheitsmodelle), die zeigen: Es geht anders. Zu lösen sind u.a.:
- Infrastruktur (Geschäfte am Ort statt Großmärkte, Praxen, Apotheke etc.).
- Bedürfnisgerechte Wohngröße statt Einheitsgröße, Wohnraum statt Schlafstätte.
- Intelligente Mischung aus Gemeinschafts- und Privaträumen (Gemeinschaftsküche: nicht jede*r will/kann jeden Tag kochen; Kochen statt Fast Food oder Tiefkühlkost; Räume für unterschiedlichen Bedürfnisse: für Kinder, Jugendliche, Gemeinschaftsräume für Bildungs- und Kulturveranstaltungen, Gruppentreffen, Feiern, Unterbringung von Gästen)
- Grünfläche zur persönlichen Nutzung und zur gemeinschaftlichen Nutzung – Nutzung als was?
- Fragen der Mobilität und Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln
- Besitzverhältnisse: Privat genutzter Wohnraum, der nicht innerhalb einer Familie persönlich genutzt wird, fällt an die Kommune zur Weitergabe als Wohnraum.
- Auch Innenstädte müssen wieder zu Lebens-, Begegnungs- und Kulturräumen werden. Der ländliche Raum muss wieder zu einem attraktiven Lebensraum werden mit der erforderlichen Infrastruktur, Kultur- und Begegnungsangeboten.
8. Demokratie:
- Unter Corona-Bedingungen müssen wir erleben, dass versucht wird, „durchzuregieren“ (Beispiel: der Versuch der NRW-Landesregierung ein verfassungswidriges Epidemiegesetz im Eiltempo und ohne Diskussion durchzusetzen; der gesetzlich nicht abgesicherte Einsatz von Drohnen u.a. in Dortmund zur Überwachung öffentlicher Plätze; Polizeieingriffe, da wo kleine Gruppen auf öffentlichen Plätzen oder in Parks anzutreffen sind: Während es bei der Polizei scheinbar kein Problem ist, in Gruppen ohne Abstandshaltung zu patrouillieren, wird dieses da, wo es Zivilist*innen tun, zur Straftat)
- Die Beratung der Bundes und Landesregierungen: Während der vergangenen Wochen konnten wir erleben, dass die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eingrenzung des Virus, begleitet wurden von Empfehlungen durch Virologen: Drosten, Streeck, Robert-Koch-Institut, Leopoldina, ohne dass informiert wurde, ob und wenn ja, durch welche Interessenvertreter ihre Arbeit begleitet wird. Einzig bei dem von der NRW-Landesregierung zur Untersucheng des Pandemie-ausbruchs in Heinsberg eingesetzten Prof. Streeck gelangten Informationen nach einer Anfrage im Landtag an die Öffentlichkeit. Zur Demokratie gehört jedoch auch die Auskunft darüber, durch wen eine Regierung beraten wird. Es ist dringend nötig, demokratische Strukturen zu erweitern. Vorschläge liegen vor: So der einer Stärkung der demokratischen Institutionen durch die Beteiligung von Bürger*innen (z.B. per Losverfahren) von der kommunalen Ebene aufwärts, sowie die öffentlich ausgewiesene Heranziehung von Wissenschaftlern u.a. in der Klima-, Verkehrs- und Gesundheitspolitik.
- Die Hauptlast und Risiken auch der Corona-Krise tragen Frauen. Ihre Arbeit wird endlich als systemrelevant anerkannt. Doch entsprechend entlohnt wird sie auch weiterhin nicht, abgesehen von angekündigten einmaligen Zusatzzahlungen. Frauen haben mehrheitlich und unbezahlt die Last der Kinderbetreuung zu tragen, weil Schulen und Kitas geschlossen sind. Über ihr Einkommen aber entscheiden in der Regel Männer. Ebenso entscheiden mehrheitlich Männer über die gegen das Virus zu treffenden Maßnahmen. Hier sind Frauen, wenn nötig durch Quotenregelung, endlich angemessen zu beteiligen und (solange eine andere Lösung nicht realisiert wird) ihrer Arbeit gemäß, nicht ihrer Ausbildung oder ihrer Stellung in der Hierarchie, zu bezahlen.
9. Kooperation und über die nationalen Grenzen hinaus gehende Vernetzung: Wie in der Klimabewegung gibt es auch in der sozialen Bewegung weltweit zahlreiche Projekte, getragen von engagierten Personen und Gruppen der Zivilgesellschaft. So sind z.B. in Griechenland als Folge der Austeritätspolitik vielerorts solidarische Projekte der Gesundheitsversorgung sowie der Hilfe für Geflüchtete entstanden. Mindestens innerhalb Europas sollte es unser Anliegen sein, Verbindungen herzustellen und Wege des Austauschs, der Zusammenarbeit und der Unterstützung zu schaffen. Es darf nicht Viren und Konzernen überlassen bleiben, grenzüberschreitend und international zu agieren.