Eine Care Revolution-Perspektive auf Arbeitszeitpolitik

Der folgende Text ist die schriftliche Fassung eines Redebeitrags, den Matthias Neumann, als Aktiver im Netzwerk Care Revolution eingeladen, auf einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Arbeitszeitpolitik am 14.10.23 in Berlin gehalten hat. Mit diesem Thema beschäftigt sich auch die AG Erwerbsarbeitszeitverkürzung im Netzwerk Care Revolution. Interessent*innen an einer Mitarbeit in der AG sind herzlich willkommen und schreiben ag-eazv@care-revolution.org an.

In einer kapitalistischen Gesellschaft über Zeit zu reden, bedeutet vor allem, über fehlende Zeit für sich und für Beziehungen zu reden, auch über die Wahl zwischen Arbeit im Übermaß und Existenzunsicherheit, vor der viele stehen. Es geht also vor allem um Überlastung und es geht darum, dass  für Menschen mit permanentem Zeitdruck zentrale Bedürfnisse unerfüllbar sind. In diesem Kontext wiederum geht es vor allem um Arbeitszeit und um die Erschöpfung, die diese verursacht, sowie um den Erschöpften dennoch fehlende, ungleich verteilte Ressourcen.

Es ist allgemein bekannt, dass Überlastung oder die erzwungene Wahl zwischen Überlastung und Armut nicht alle gleichermaßen betreffen. Dabei ist Arbeit längst nicht nur Lohnarbeit: Der Großteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist unentlohnt. Dem Zeitverwendungsbericht des Statistischen Bundesamts nach sind 56% der Arbeitszeit unentlohnt und 44% entlohnt. Bei etwa gleicher Gesamtarbeitszeit ist die Verteilung bei Männern und Frauen (es sind nur diese binären Daten erhoben) jedoch komplett unterschiedlich: Zwei Drittel der Arbeit von Frauen sind unentlohnt, bei Männern sind es 45 Prozent ihrer Arbeit. Das wirkt sich etwa bei Rentenansprüchen oder im Fall einer Scheidung als höheres Armutsrisiko für Frauen aus. Dass unentlohnte Arbeit vor allem von Frauen geleistet wird, zeigt, dass es bei diesem Thema offensichtlich um soziale Rollen und strukturelle Privilegien geht. Denn welche Haus- und Familienarbeiten wären von Natur aus an ein bestimmtes Geschlecht gebunden? Im Grunde hört das nach dem Gebären und – schon begrenzt – dem Stillen ziemlich schnell auf.

Die Belastung stammt aus dem gesamten Umfang der Arbeit. Sie schlägt sich unter anderem im Anstieg psychischer Erkrankungen nieder. Besonders belastet sind Menschen mit einem hohen Umfang an Sorgeaufgaben. Die Sorgeaufgaben jedoch sind ungleich verteilt. Das zeigt sich sowohl bei Alleinerziehenden als auch bei pflegenden Angehörigen, zwei Gruppen, die besonders von Armut und Überlastung betroffen sind. Auch hier sind es insbesondere Frauen, die umfangreiche Sorgeaufgaben erschöpfen und arm machen. Beides trifft auch die abhängigen Personen: Kinder oder Pflegebedürftige.

Dieser unentlohnte Großteil der gesellschaftlich erforderlichen Arbeit wird weitestgehend nicht als Arbeit wahrgenommen. Einen Gutteil meiner Betriebsratstätigkeit im Supermarkt machte aus, die Zeit für Haus- und Familienarbeit sowie Selbstsorge gegen überbordende Flexibilitätsansprüche der Marktleitung zu verteidigen, die aus der Haltung stammten, Arbeit sei nur das, was entlohnt wird. Nebenbei hat dies die Folge, dass Arbeiten desto mehr in ihrer Fachlichkeit abgewertet und schlecht entlohnt werden, je dichter sie an häuslicher Arbeit sind. Und dies ist, wenn wir von Zeit reden, immer mitzubedenken: Je niedriger der Stundenlohn, desto mehr Zeit ist für einen bestimmten Lebensstandard bei der Lohnarbeit aufzubringen.

Dieser Zugriff auf die unentlohnte Arbeit beinhaltet die Fiktion, dass diese Arbeit selbst unbeschränkt verfügbar wäre, dass keine Bedingungen außer dem Kauf von Konsumgütern und Dienstleistungen erfüllt sein müssten, damit am nächsten Arbeitstag und in der nächsten Generation fitte und motivierte Arbeitskräfte vor den Betriebstüren stehen. Dass Reproduktion auch Zeit braucht, wird ignoriert. Am Beispiel der Pflege Angehöriger: Der spätere Renteneintritt führt dazu, dass insbesondere weniger Frauen als pflegende Angehörige zur Verfügung stehen. Zugleich reduzieren diejenigen, die trotz der Pflege im Job verbleiben, in der Regel deutlich ihre Lohnarbeitszeit. Es geht nun mal nicht beides gleichzeitig, und Erholung müsste auch noch in den Tag – was allzu oft nicht gelingt. Die Parallelen im Umgang mit unentlohnter Arbeit und mit ökologischen Kreisläufen liegen auf der Hand und sind von verschiedenen Strömungen des Feminismus deutlich benannt worden. Beides wird im Kapitalismus übernutzt, bis das Gelingen der Reproduktion in Frage steht.

Im Neoliberalismus spitzt sich diese Krise sozialer Reproduktion zu: Wenn alle Personen möglichst in Vollzeit erwerbstätig sein sollen und häufig nur so ihren Lebensunterhalt sichern können, mangelt es an Zeit für häusliche Sorgearbeit. Weil gleichzeitig die soziale Infrastruktur möglichst kostengünstig sein soll, werden auch Unterstützungsleistungen in Bereichen wie Bildung, Erziehung, Pflege und Gesundheit nicht angemessen bereitgestellt. Dieser Widerspruch, einerseits die Kosten für Arbeitskräfte möglichst gering zu halten und andererseits viele angemessen qualifizierte und flexible Arbeitskräfte zur Verfügung haben zu wollen, ist dem Kapitalismus immanent, spitzt sich aber derzeit im Neoliberalismus zu. Haushalte lösen das Problem je nach ihren Möglichkeiten auf verschiedene Weise: Überlastung bei viel Lohnarbeit zusätzlich zur unentlohnten Arbeit, bei Verringerung der Lohnarbeit Hinnehmen von Unsicherheit und Armut, Abwälzen von Arbeiten auf schlechter als man selbst bezahlte Haushaltsarbeiterinnen, nicht wenige Haushalte mit einer gut verdienenden Person bleiben bei der tradierten Geldverdiener-Hausfrau-Arbeitsteilung – spätestens, wenn das erste Kind da ist, ist die Gleichverteilung der Arbeiten vorbei. Unterm Strich gibt es keine gute Konstellation, die gesicherte Reproduktion und Zeitwohlstand vereint, ohne auf dem Rücken anderer stattzufinden.

Weil die Arbeit insgesamt zu viel ist und auch die Gesamtarbeitszeit zwischen Männern und Frauen kaum abweicht, kann eine Umverteilung der Lohnarbeit und mit ihr der häuslichen Care-Arbeit das Problem – zu viel Arbeitszeit und zu schlechte Arbeitsbedingungen – nicht lösen. Dabei gibt es gute Gründe, unentlohnte Arbeit nicht einfach unter „geteiltes Leid, halbes Leid“ einzuordnen. Die wenigsten würden sagen, dass ihr Traum vom guten Leben beinhaltet, sich gar nicht um die Wohnung zu kümmern und mit Kindern am liebsten gar nichts zu tun zu haben. Die Arbeit wird schlecht, wenn sie zu einseitig und zu wenig selbstgewählt ist. Davon abgesehen gibt es natürlich gute Gründe für die Umverteilung der Arbeiten und die Auflösung der geschlechtlichen Arbeitsteilung: Das Armutsrisiko, solange Rente und andere Zahlungen an das Erwerbseinkommen gebunden sind, und die Festlegung von Menschen auf Geschlechterrollen. Das Problem der Überlastung jedoch wird nicht durch Umverteilung gelöst, wenn die Gesamtarbeit zu viel ist.

Wir benötigen für ein gutes Leben mehr gesellschaftliche Zeit für die Gestaltung unserer sozialen Beziehungen, und wir brauchen mehr Zeit für gesellschaftliche Mitbestimmung. Mehr Zeit hierfür bedeutet aber, weniger Zeit für anderes zu verwenden. Aus ökologischen Gründen betrifft dies besonders die Produktion von Dingen, deren Transport und Verkauf. Zugleich ist aber der ökologische Umbau des Produktionsapparates und der Energieversorgung dringend erforderlich. Einige notwendige Maßnahmen, etwa Abkehr von der industriellen Landwirtschaft, Nutzung nur erneuerbarer Energien, Ausbau der Care-Infrastruktur senken zudem die gesamtwirtschaftliche Produktivität. Das alles bedeutet Einsatz von Arbeitszeit. Umso mehr stellt sich die Frage: Wie gestalten wir ein besseres Leben mit weniger Dingen, die zur Verfügung stehen? Ein zweiter Ansatzpunkt, Arbeitszeit zu verringern, ist, dass etliche Reproduktionsaufgaben befriedigender, weil beziehungsreicher, und rationeller getan werden können, wenn sie kollektiv organisiert werden. Auch für den Ressourcen- und Energieverbrauch kann das nur positiv sein.

Diese beiden Ansatzpunkte des sozial-ökologischen Umbaus sind nur im Rahmen einer anderen, nicht imperialen Lebensweise erstrebenswert. Diese wäre auf den verschiedenen Ebenen von der Nachbarschaft bis zum Planeten großzügiger teilend. Sie wäre im Energie- und Ressourcenverbrauch, auch in den Besitzwünschen genügsamer, sie wäre Transporte verringernd und kleinräumiger und zugleich Wissen und Kapazitäten global teilend. Sie wäre kollektiver und aus einer care-aktivistischen Position ganz wichtig: Die Entfaltung von Beziehungen stünde im Zentrum. Diese könnten weniger instrumentalisierend und oberflächlich sein, es gäbe sicherlich weniger Vereinzelung. Es gäbe Zeit, mit den Bedürfnissen anderer und mit den eigenen Bedürfnissen in Kontakt zu kommen; es gäbe Raum auszuhandeln, was im Fall der Überlastung einzelner getan werden kann.

Letztlich geht es, um wieder eng am Thema der Veranstaltung zu sein, nicht nur um weniger mit Arbeit verbrachte Zeit. Es ist zwar wichtig, wieviel Zeit zur Regeneration, zur Entfaltung der eigenen Kreativität, zum Spielen und unnütz sein Dürfen zur Verfügung steht. Es geht aber auch um die Qualität der mit Arbeit verbrachten Zeit. Es geht um die Qualität unserer sozialen Beziehungen. Es geht durchaus auch um Effizienz und Planung in dem Sinn, dass alle mit den Ergebnissen der gesellschaftlichen Arbeit ihre Bedürfnisse befriedigen können. Und es geht um die kollektive Verfügung über die Lebensbedingungen. All dies ist in einer auf Kapitalverwertung ausgerichteten Gesellschaft sicherlich nicht zu verwirklichen. Um so wichtiger sind erste Schritte, die uns handlungsfähiger machen, Leid lindern und zugleich eine nichtkapitalistische Zukunft vorstellbarer machen.

Ein ganz zentraler Schritt ist Verkürzung der Lohnarbeitszeit. Die gemeinsamen Kämpfe sind ermächtigend und bei entsprechenden Rahmenbedingungen verbessert sie die Lebensqualität enorm. Zu diesem Rahmen gehört zum einen bei niedrigen Löhnen ein voller Lohnausgleich und zum anderen keine Erhöhung der Arbeitsintensität. Unter den genannten Bedingungen wird das gesellschaftliche Erwerbsarbeitsvolumen sinken. Das ist nur positiv, wenn wir die Überlastung der ökologischen Grenzen und die Überlastung Sorgearbeitender mitdenken. Umso wichtiger ist die Debatte und Steuerung, von welchen Arbeitsprodukten wir mehr brauchen und auf welche wir verzichten. So benötigen wir sicherlich mehr an sozialer Infrastruktur und öffentlicher Mobilität. Auf einen Großteil der PKWs, auf Werbung oder Rüstungsgüter werden wir verzichten. Insgesamt werden wir mehr Güter teilen müssen und können. Damit sind wir wieder bei Lebensweise und Zeitqualität.

In vielen Lebenssituationen, wenn Sorgeaufgaben großen Raum einnehmen, ist aber Freiheit von Lohnarbeit oder Teilzeit jenseits einer verkürzten Vollzeit wichtig. Diese Menschen sind aktuell besonders von Armut und Zeitmangel betroffen. Und es sei betont: Hier wird – in einer anderen Sphäre – ebenfalls zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit beigetragen. Damit es auch dann mehr Zeitsouveränität gibt, ist weiteres wichtig: Entlastende soziale Infrastruktur, eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Angleichung von Lohndifferenzen, damit die individuelle Entscheidung, kürzer erwerbstätig zu sein, mehr Menschen offensteht. Eine solche Entscheidung, der Sorgearbeit mehr Zeit zu widmen, wird auch durch eine erwerbsunabhängige, sanktionsfreie Existenzsicherung unterstützt.

Dies wären Schritte noch im kapitalistischen Rahmen dahin, Zeitwohlstand für alle mit Existenzsicherheit zu verbinden. Diese Vorschläge werden nicht alle teilen, die sich für kürzere Lohnarbeit einsetzen. Aber in Bündnissen müssen nicht alle dieselben Motive haben. Viel wichtiger ist es, in den Kämpfen zusammen und ins Gespräch zu kommen. Aber wir werden aus Care Revolution-Perspektive immer vertreten, dass beim Reden über Arbeitszeit die unentlohnte Arbeit und die unterschiedlichen Sorgesituationen mitgedacht werden müssen und dass diese Perspektive, genau wie die ökologischen Rahmenbedingungen, in alle Bündnisse in Kämpfen um Zeit gehört.