Entwicklungen der Krise sozialer Reproduktion in der Jugendhilfe

Beitrag in der Reihe Perspektiven von Fredrik Wolze

Grafik von Paul Zuerker; cc-by-nc
Grafik von Paul Zuerker; cc-by-nc

In diesem Beitrag geht es mir darum darzulegen, wie sich die Entwicklungen der Krise sozialer Reproduktion im Bereich der sozialpädagogischen Jugendhilfe äußern. Hierzu stelle ich zunächst die Folgen der Ökonomisierung und Kostenbegrenzung in der Jugendhilfe für die Beschäftigten und für die Adressat_innen der Angebote dar. Anschließend zeige ich auf, dass sich durch das Senken der Reproduktionskosten der Arbeitskraft in der Jugendhilfe deren Reproduktionsbedingungen verschlechtert haben, und dieses auf die Verwertungsbedingungen des Kapitals rückwirkt.

Das Jugendhilfeangebot umfasst verschiedene Leistungen aus den Bereichen der Beratung, Erziehung, Bildung und der materiellen Versorgung, die die Adressat_innen teils in Form offener Angebote, teils bedarfsabhängig in Anspruch nehmen können. Als Teil sozialstaatlicher Leistungen, festgelegt im Achten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII), wird das Jugendhilfeangebot nicht wie in der Privatwirtschaft über Angebot und kaufkräftige Nachfrage reguliert, sondern durch die Sozialpolitik strukturiert. Die öffentlichen Träger der Jugendhilfe, die Jugendämter, planen, steuern und finanzieren das Jugendhilfeangebot. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, einem Spezifikum des deutschen Sozialrechts, sollen die öffentlichen Träger in der Erbringung der sozialen Dienstleistungen nur selbst tätig werden, sofern dieses nicht durch freie Träger abgedeckt werden kann. Die öffentlichen Träger vergeben entsprechende Aufträge über die Schaffung von Jugendhilfeeinrichtungen und der Erbringung der Jugendhilfeleistungen an die freien Träger, durch die die direkte Arbeit mit den Adressat_innen zum überwiegenden Teil erfolgt. Zu der gesellschaftlichen Funktion der Sozialen Arbeit, respektive der Jugendhilfe, gehört es, an der Reproduktion des Arbeitskräftepotentials mitzuwirken. Zugleich belasten die finanziellen Aufwendungen für die Soziale Arbeit als Teil der Sozialstaatsausgaben die Profitraten. Die Jugendhilfe macht, gemessen an den Ausgaben und dem Arbeitsvolumen, das größte Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit in der BRD aus. Daher wird, wie in anderen Bereichen der entlohnten Care-Arbeit, versucht, diese Kosten gering zu halten.

In der Jugendhilfe erfolgt dieses durch eine restriktive Sozialpolitik bei der Finanzierung von Jugendhilfeeinrichtungen, durch eine restriktive Bewilligungspraxis bei einzelfallbezogenen Leistungen und vor allem durch die Ökonomisierung, die die Jugendhilfe wie andere Arbeitsfelder Sozialer Arbeit erfährt. Seit Mitte/Ende der 1990er Jahre werden verstärkt Marktmechanismen bei der Steuerung und Erbringung der Jugendhilfeangebote übernommen. Entscheidende Weichenstellungen hierfür waren die in den 1990er Jahren auf kommunaler Verwaltungsebene eingeführten neuen Steuerungsmodelle, mit denen betriebswirtschaftliche Elemente implementiert wurden und die 1999 erfolgte Novellierung des SGB VIII. Diese Neufassung der sozialrechtlichen Grundlagen beinhaltet die weitgehende Aufhebung des vormaligen Selbstkostendeckungsprinzips, nach welchem den freien Trägern ihre tatsächlich angefallenen Kosten erstattet worden sind. Als neuer Finanzierungsmodus wurden differenzierte vorab festgelegte Leistungs-, Qualitäts- und Entgeltvereinbarungen eingeführt. Ebenfalls wurden die Zulassungsbedingungen, um als Träger der Jugendhilfe tätig zu werden, dereguliert. Der Unterschied zwischen gemeinnützigen und gewinnwirtschaftlich ausgerichteten Trägern wurde weitestgehend aufgehoben, diese werden nunmehr gleichrangig als Leistungserbringer behandelt. Es wurde hiermit ein Markt geschaffen, in dem die freien Jugendhilfeträger – sowohl gemeinnützige als auch privatwirtschaftliche – um die Vergabe der öffentlichen Aufträge durch das Jugendamt konkurrieren (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2015: 142 ff.).

Das politische Ziel, das diesen Umstrukturierungen zugrunde lag, war es, durch die Trägerkonkurrenz das Jugendhilfeangebot flexibler über die freien Träger steuern zu können und auf Anbieterseite Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen zu erreichen. In einem wettbewerblichen Rahmen bieten die freien Träger Einzelfallhilfen für einen bestimmten Fachleistungsstundensatz an oder bewerben sich darauf, Jugendhilfeeinrichtungen und -projekte für einen Pauschalbetrag bereitzustellen. Seitens der freien Träger können günstigere Angebote maßgeblich nur dadurch umgesetzt werden, dass sie Kostensenkungen bei den Beschäftigten ansetzen. Soziale Arbeit war und ist im Verhältnis zu anderen Branchen mit vergleichbarer Qualifikation ohnehin durch ein gemeinhin niedriges Lohnniveau geprägt (vgl. Chassé 2013: 18 f.). Zu den intendierten Resultaten der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips gehört es, dass die freien Träger seitdem ein Eigeninteresse entwickeln, die Lohnkosten weiter zu senken, um sich in der Konkurrenz behaupten zu können. Folgerichtig hat sich der Druck auf die Löhne erhöht: Untertarifliche Entlohnung und unsichere Beschäftigungsverhältnisse, wie Honorartätigkeiten, haben zugenommen. Geringere Personalschlüssel bzw. höher angesetzte Fall- und Nutzer_innenzahlen führen zu einer Arbeitsintensivierung für die Beschäftigten und gehen zu Lasten der Beratungsqualität sowie einer dem Bedarf entsprechenden Unterstützung der Adressat_innen. Mit Verweis auf schwankende Auftragslagen wird der Personaleinsatz flexibilisiert, und die Arbeitsplatzsicherheit hat abgenommen. Eine hohe Fluktuation des Personals durch den flexiblen Einsatz von Honorarkräften, durch Befristungen oder durch auftragsbedingte Entlassungen ist die Folge. Dies steht einer Kontinuität in der Arbeit, die die direkte Interaktion von Adressat_innen und Sozialarbeiter_innen voraussetzt, entgegen. Insbesondere der Bereich der Einzelfallhilfen ist durch die fallweise Vergabe von Fachleistungsstunden von einer besonderen Dynamik unter den Bedingungen der Konkurrenz geprägt. Gleichzeitig hat eine Zunahme des Berichtwesens stattgefunden, die maßgeblich auf die Vorgaben des Abrechnungssystems zurückgeht. Diese stellt eine zusätzliche Arbeitsanforderung an die Sozialarbeiter_innen dar und reduziert die Zeit, die sie für die direkte Arbeit mit den Klient_innen verwenden können. Die Arbeit mit Adressat_innen, die sich in prekären Lebenslagen befinden, erfordert es häufig, flexibel auf deren Lebenssituationen zu reagieren. Die Möglichkeiten, adäquat auf die Bedarfe der Klient_innen einzugehen, werden durch die Zunahme der Vorgaben durch das Finanzierungsmodell und der Berichtstätigkeiten eingeschränkt (vgl. Wolze 2017: 54 ff.).

Neben diesen Entwicklungen, die die Jugendhilfe insgesamt betreffen, finden in den einzelnen ausdifferenzierten Arbeitsbereichen und regional unterschiedlich weitere Kostensenkungs- und Ökonomisierungsstrategien Anwendung, von denen ich beispielhaft drei anreiße: Erstens ist im Bereich der ambulanten Einzelfallhilfen, die als personalintensive Rechtsanspruchsleistung unter einem besonderen Kostensenkungsdruck stehen, die Bewilligungspraxis seitens der Jugendämter restriktiver geworden. Durchschnittlich wird heute weniger Zeit für die Einzelfallarbeit mit belasteten Jugendlichen bewilligt, wodurch sich die Bedingungen für ein Arbeiten an den zugrundeliegenden Problematiken verschlechtert haben. Im Zusammenwirken mit der Trägerkonkurrenz und der Finanzierung über Fachleistungsstunden, die je Einzelfall vergeben werden, stehen die Sozialarbeiter_innen angesichts der restriktiven Bewilligungspraxis verstärkt in einem Spannungsverhältnis zwischen fachlichen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen. Zweitens sind Arbeitsbereiche und Einrichtungen der Jugendhilfe hingegen, auf deren Angebote kein Rechtsanspruch besteht, gemeinhin durch eine unsichere Finanzierung geprägt. Dies betrifft u. a. offene Angebote und Bildungsprojekte. Die Möglichkeiten, entsprechende Jugendhilfeangebote auszurichten, die für gewerbliche Träger zumeist nicht lukrativ sind, sind äußerst begrenzt. Sofern die Angebote überhaupt realisiert werden können, sind die Sozialarbeiter_innen einen großen Teil ihrer Arbeitszeit mit der Einwerbung von Finanzierungsmitteln beschäftigt. Drittens wird in einigen Kommunen darüber hinaus das Jugendhilfeangebot verstärkt über Sozialraumbudgets gesteuert, mit denen die Jugendhilfeausgaben, um die die freien Träger konkurrieren, für ein bestimmtes Quartier gedeckelt werden (vgl. ebd.: 72 ff.).

Durch die Kostenbegrenzungs- und Ökonomisierungsstrategien, die hier nur unvollständig skizziert wurden, haben sich die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeiter_innen – hinsichtlich der materiellen Absicherung, der Arbeitsintensität und Belastung – verschlechtert. Gleichermaßen verschlechtern sich mit einer Reduktion der Zeit, die für die Arbeit mit den einzelnen Nutzer_innen zur Verfügung steht, die Bedingungen für eine wirksame sozialpädagogische Arbeit und Unterstützung der Adressat_innen.
Die verschiedenen Arbeitsbereiche innerhalb der Jugendhilfe und die konkreten Tätigkeiten, wie bspw. Beratungen, unterstützen die individuelle Reproduktion der Adressat_innen. Der Jugendhilfe kommen hierbei folgende Funktionen zu: Sie unterstützt konkret die Reproduktion derzeitiger Arbeitskräfte in Gestalt der Erziehungsberechtigten und der bereits erwerbsfähigen Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen und vor allem die Reproduktion zukünftiger Arbeitskräfte, der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen. Dabei wirkt die Jugendhilfe kompensatorisch: Sie reagiert auf soziale Problemlagen ihrer Adressat_innen und wird da tätig, wo die Reproduktion nicht ohne Weiteres gegeben ist bzw. problematisch verläuft. Ihre Angebote richten sich an Adressat_innen, die zum überwiegenden Teil von prekären Lebensbedingungen betroffen sind, einen erschwerten Zugang zu Lohnarbeit und in der Folge zu materiellen Ressourcen zur Reproduktion haben. Durch unbefriedigte Unterstützungsbedarfe, infolge einer Restriktion der Jugendhilfeausgaben, verschlechtern sich mithin die Reproduktionsbedingungen der Adressat_innen der Jugendhilfe (vgl. Wolze 2017: 95 ff.).

Die individuelle Reproduktion bleibt aber notwendig auf den Verwertungsprozess des Kapitals bezogen, da sie Teil der Reproduktion des gesellschaftlichen Arbeitskräftepotentials ist (vgl. Winker 2011: 334ff).
Es besteht hiermit der Widerspruch, dass einerseits die Jugendhilfe im Sinne der Sozialpolitik die gesellschaftliche Funktion erfüllen soll, ihre Adressat_innen dahingehend zu befähigen, dass sie der Anforderung einer künftig eigenständigen Lebensführung, die durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft bestritten wird, gerecht werden (vgl. BMFSFJ 2013: 295; Dahme/Wohlfahrt 2011: 402). Andererseits werden die Kosten für die Arbeit in der Jugendhilfe so stark begrenzt, dass die Reproduktion einer den Erfordernissen des Verwertungsprozesses entsprechenden Arbeitskraft unterlaufen wird. In einer weit entwickelten kapitalistischen Gesellschaft benötigt das Kapital, um Profite durch Steigerung der Arbeitsproduktivität zu erzielen, zu einem großen Teil Arbeitskraft, die qualifiziert und möglichst breit einsetzbar ist. So wird seitens des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beklagt, dass ein erheblicher Teil der jungen Menschen Kompetenz- und Qualifikationsdefizite aufweist und nicht den Anforderungen des Arbeitsmarktes entspricht (vgl. BMFSFJ 2013: 54). Dieses kann als Ausdruck davon verstanden werden, dass die Verwertung der Arbeitskraft zumindest in Teilen nicht gemäß den Ansprüchen des Kapitals erfolgt und dieses seinen Zugriff auf adäquate Arbeitskraft eingeschränkt sieht. Wenn die von der Sozialpolitik anvisierte Arbeitsmarktintegration aufgrund sozialer Problemlagen nicht gelingt, werden die betroffenen Jugendlichen künftig keinen Mehrwert produzieren. Die Produktivität der gesamtgesellschaftlichen Arbeitskraft wird beeinträchtigt. Die zentrale Dynamik der Krise sozialer Reproduktion besteht darin, dass ein Senken der Reproduktionskosten der Arbeitskraft in Bezug auf die zur Reproduktion notwendige Care-Arbeit vorübergehend die Akkumulationsbedingungen verbessert, aber längerfristig seinerseits die Verwertungsbedingungen des Kapitals einschränkt (vgl. Winker 2015: 92 ff.). Diese Krisendynamik kommt somit auch in der Jugendhilfe zum Tragen. Die beschriebenen Entwicklungen, durch die sich die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeiter_innen verschlechtern und die eine nicht dem Bedarf entsprechende Unterstützung und Einschnitte in den Lebensbedingungen der betroffenen Jugendlichen bedeuten, sind mithin als Teil der Krise sozialer Reproduktion zu verstehen.

Literatur:

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. BerlinChassé, Karl August (2013): Deregulierte Soziale Arbeit? In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 128, S. 11-30

Dahme, Heinz-Jürgen/ Wohlfahrt, Norbert (2015): Soziale Dienstleistungspolitik. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden: Springer VS

Dahme, Heinz-Jürgen/ Wohlfahrt, Norbert (2011): Gerechtigkeit im Kapitalismus: Anmerkungen zur affirmativen Normativität moderner Gerechtigkeitstheorie. In: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 41(4), S. 385-408

Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript

Winker, Gabriele (2011): Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive. In: Das Argument, Heft 292, 53(3), S. 333-344.

Wolze, Fredrik (2017): Verschärfung der Krise sozialer Reproduktion durch Ökonomisierung der Sozialen Arbeit am Beispiel der Jugendhilfe. ExMa-Papers, Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien, Universität Hamburg. Online verfügbar unter: https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sozoek/professuren/heise/zoess/publikationen/exma34.pdf