Oldenburg – Eine Stadt für Alle. Gemeinsam eine Utopie zeichnen!

Wir dokumentieren hier eine Rede, die am 1. Mai 2022 von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) vor einem Oldenburger Jobcenter gehalten wurde. Die ALSO ist Kooperationspartnerin im Netzwerk Care Revolution. In der Rede werden Punkte angesprochen, die vielleicht erst auf den zweiten Blick mit Sorgearbeit zu tun haben: Der Umgang mit armen Menschen in der Corona-Pandemie, die je nach Herkunft unterschiedliche Behandlung von Geflüchteten, die Folgen des Kriegs in der Ukraine, auch hinsichtlich einer Verschiebung der Geschlechterrollen. Die Rede von ALSO bezieht diese Themen auf die politische und beratende Tätigkeit der Organisation. Dabei machen sie deutlich: Welche Bedingungen für Leben und soziale Beziehungen die Herrschenden schaffen, bestimmt auch die Bedingungen der Sorge füreinander. Sozial-, Migrations- und Kriegspolitik haben für Sorgebeziehungen einschneidende Bedeutung.

Logo von ALSO

Wir müssen über Oldenburg und Corona reden.

Immer noch müssen in Oldenburg mehr als 17.000 Menschen von einer Grundsicherung leben, die den Namen nicht verdient und schon längst nicht mehr das Existenzminimum deckt. Jedes fünfte Kind unter 15 Jahren lebt von Hartz IV. Die Hälfte aller Bedarfsgemeinschaften mit Kindern ist alleinerziehend. Mehr als die Hälfte der Erwerbslosen ist schon länger als vier Jahre beim Jobcenter. Fast 40 Prozent haben keine deutsche Staatsangehörigkeit.

In den ersten beiden Jahren der Corona-Pandemie waren die Türen der Behörden verschlossen. Das hat die sprachliche und strukturelle Ausgrenzung gerade von Menschen ohne deutschen Pass verschärft, aber auch sichtbarer gemacht. Statt Willkommenskultur, Mehrsprachigkeit und Empathie erleben sie Misstrauen und Vorurteile. Misstrauen, das auch geschürt wird durch sogenannte „Arbeitshilfen“ der Behörden-Leitungen. In diesen Arbeitshilfen wird pauschal gleich ganzen Gruppen von Zugewanderten organisierter Leistungsmissbrauch und Bandenkriminalität unterstellt.

Und die Corona-Pandemie hat viele skandalöse Arbeits- und Lebensverhältnisse sichtbar gemacht. Migrantische Arbeitskräfte dürfen unter übelsten Arbeits- und Lebensbedingungen unsere billigen Lebensmittel herstellen, in den Gaststätten kochen, spülen und bedienen. Sie dürfen rund um die Uhr Pakete und Essen ausfahren, sie dürfen Alte und Kranke pflegen und Büros und Gebäude sauber halten. Sie dürfen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Aber wenn sie selbst einmal krank und hilfsbedürftig werden, wenn sie arbeitslos werden und auf Sozialleistungen angewiesen wären, dann wird ihnen oft das Leben schwer gemacht. Dann sollen sie lieber wieder gehen! Sie sollen nicht öffentlich in Erscheinung treten und sie sollen auf keinen Fall laut werden.

Wir müssen über den Umgang mit Geflüchteten reden.

Zuwanderung und Flucht werden den Anteil der Menschen weiter erhöhen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, aber keinen deutschen Pass haben. Wir begrüßen, dass den Geflüchteten aus der Ukraine schnell und unbürokratisch geholfen wird. Wir freuen uns über die große Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Es ist gut und richtig, dass sie schnell Aufenthalts- und Arbeitsrechte und anstelle von Asylleistungen sofort Grundsicherung erhalten. Aber dieser Umgang muss doch für alle gleichermaßen gelten! Romnja und schwarze Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, werden an den Grenzen zurückgedrängt. Hunger, Kälte und gewalttätiges Zurückdrängen sind die unmenschliche Realität für Geflüchtete an der belarussisch-polnischen Grenze. Tausende Menschen in Afghanistan werden nicht ausgeflogen und sind Gewalt, Folter und Vergewaltigungen ausgesetzt. Tausende ertrinken unter skandalöser Beteiligung von Frontex auf dem Fluchtweg übers Mittelmeer. Und über die Auswirkungen des aktuellen Angriffskriegs der türkischen Armee gegen die PKK im Nordirak wird ebenso wenig berichtet wie über die Folgen des anhaltenden Kriegs in Syrien.

Wir müssen über Veränderungen durch Krieg reden.

Mehr als zwei Monate führt Putins Armee einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Unschuldige Menschen sterben, Städte und Infrastrukturen werden zerstört, Millionen Menschen müssen fliehen. Wie auch immer wir uns zum Recht auf Selbstverteidigung der Ukraine und zu Waffenlieferungen positionieren: Fest steht, dass sie das Sterben und die Zerstörung verlängern und ausweiten werden. Fest steht, dass schon jetzt mehr als 7 Millionen Menschen fliehen und junge Männer nicht ausreisen dürfen. Aber es steht nicht fest, ob sie der Ukraine zu einem Sieg über die russische Armee verhelfen können oder zum atomaren Weltkrieg führen. Wir geben zu, wir sind ratlos. Aber wir sollten nicht nur die Stimmen der Kriegstreiber hören. Wir sollten die Stimmen der ukrainischen und russischen Menschen hören, die sich in ihren Ländern unter schwierigsten Bedingungen gegen den Krieg und Unterdrückung stellen. Wir sollten die Stimmen der 5000 russischen Lehrkräfte hören, die vor ein paar Tagen öffentlich gegen den Krieg protestierten. Und es ist nicht nur die Wahrheit, die das erste Opfer jedes Kriegs ist. Die lange und mühsam erkämpfte Befreiung von archaischen Geschlechterrollen wird zurückgeworfen durch die täglich präsentierten, heroisierenden Bilder von Männern in Kampfmontur und an Kriegsgeräten. Verletzte und traumatisierte junge Männer müssen von Frauen gepflegt werden. Und entseelte und brutalisierte Kriegsveteranen werden zum Wiederaufbau einer menschlichen Gesellschaft mit Gleichberechtigung kaum mehr fähig sein.

Was hat das mit unserer Arbeit zu tun?

Die Auswirkungen dieses Kriegs bedeuten schon heute steigende Lebensmittelpreise, wachsende Inflation und drohende Energiearmut. Sie bedeuten Rückschläge in der Klimapolitik. Und sie bedeuten noch mehr Flüchtende. Und wir wissen doch ganz genau, wen diese Auswirkungen zuerst und am härtesten treffen, bei wem die Milliarden Euro für Aufrüstung und Wirtschaftshilfen wieder eingespart werden.

Wir müssen darüber reden, was wir tun können.

Was können wir tun? All denen eine Stimme zu geben, die in Kriegen und Krisen als erste untergehen, deren Existenzsicherung in Frage gestellt wird, die ihre Arbeit und Freizügigkeit verlieren, die ihre Mieten und Heizkosten nicht mehr bezahlen können, die ausgegrenzt und diskriminiert werden. Eine Stadt für alle? In der ALSO werden wir weiterhin alle Menschen, die zu uns kommen, beraten, Hilfe zur Selbsthilfe leisten, Selbstorganisation unterstützen.
Unsere Utopie? Wir haben unsere ukrainischen Nachbarn zum Frühstück eingeladen, wir wollen zu einer Oldenburger-Energie-Armuts-Konferenz aufrufen, wir wollen uns für die Kostenübernahme von Schulbüchern einsetzen, wir machen einen Workshop beim Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ in Nürnberg, wir planen eine Kampagne zum Kindergeld, wir wollen unseren Laden zu einem Sozialen Zentrum erweitern.

Wenn ihr ratlos seid und nicht wisst, wohin: Wir freuen uns über engagierte Mitstreiter:innen!

Homepage von ALSO: www.also-zentrum.de