Der erste regionale Kongress zum Thema Care in Uruguay

Beitrag in der Reihen Perspektiven von Jana Vasil’eva

Allianzen feministischer Netzwerke setzen derzeit erfolgreich das Recht der Menschen auf Care auf die öffentliche Agenda einiger Länder der lateinamerikanischen Region. Dies geschieht aus der Überzeugung heraus, dass die Sorge einen Grundbaustein der sozialen Gerechtigkeit und der menschlichen Entwicklung darstellt. Care als menschliches Grundrecht zu konstituieren, ist ein unabdingbarer Schritt, um den tiefen Ungleichheiten entgegenzuwirken, welche weite Teile Lateinamerikas derzeit in einer Spirale der kollektiven Erschöpfung, Frustration und Gewalt bannen. Diese Ungleichheiten schaffen Raum für reaktionäre und repressive politische Kräfte, führen jedoch auch zu Organisierungsprozessen und Forderungen von Care-Arbeitenden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, feministischen Kollektiven, Netzwerken und Forschenden.

Konferenz Miradas latinoamericanas al cuidado
Foto: Claudio Princivalle (CC BY-SA 2.0)

Vom 5. bis zum 7. November 2018 tagte unter dem Titel „Miradas Latinoamericanas al Cuidado“ in Montevideo der erste regionale Kongress zum Thema Care. 300 Forscher*innen, Care-Arbeitende und Aktivist*innen aus vielen Ländern machten deutlich, dass Lateinamerika ein vielfältiges Mosaik an Ansichtsweisen, Wissen und Ansatzpunkten für grundlegende gesamtgesellschaftliche Veränderungen durch sozial gerechtere Selbstsorge- und Sorgestrukturen in sich vereint. Der Tagungsort war kein Zufall: Lateinamerika ist der Vorreiter des Globalen Südens im Unterfangen, sogenannte öffentliche Care-Systeme einzuführen. 2015 hat Uruguay hierfür den Grundstein gelegt und viele Länder sind dabei, nachzuziehen. Der Ansatz im Aufbau der Care-Systeme besteht darin, ein aufeinander abgestimmtes Angebot von Care-Dienstleistungen und Infrastruktur zu erschaffen. Die langfristige Vision ist die Errichtung von universell zugänglichen sozialen Existenzsicherungssystemen.

Der Kongress stellte eine wichtige Gelegenheit dar, um den bisherigen Prozess in Uruguay zu analysieren, aus den überwundenen und aktuellen Herausforderungen zu lernen sowie einen regen Wissensaustausch zwischen forschenden und praktischen Akteur*innen zum Thema Care zu ermöglichen. Die akademische Debatte beinhaltete einerseits traditionelle Ansätze der Politischen Ökonomie, breit ausgelegte Debatten zur Qualität und Wirkung von öffentlichen Care Programmen sowie zur Messung des wirtschaftlichen Werts der unbezahlten Care-Arbeit. Andererseits wurde die Konferenz auch zu einem Forum, in dem alternative Sorgestrukturen und care-zentrierte philosophische Ansätze des Guten Lebens, des Buen Vivir, durchdacht wurden. Buen Vivir – was im Deutschen als „gutes Leben“ übersetzt wird – beruft sich auf Wertvorstellungen und die Philosophie der indigenen Kulturen der Andenländer. Es versteht sich als alternatives Entwicklungskonzept, welches die westlich geprägten Vorstellungen von Fortschritt und Wohlstand sowie die vorherrschenden Entwicklungsmodelle in Frage stellt. Im Buen Vivir geht es nicht darum, die Tore für ein einziges, homogenes, nicht realisierbares gutes Leben zu öffnen, es geht vielmehr um das gute Miteinanderleben von Menschen in verschiedenen Gemeinschaften und von Individuen und Gemeinschaften einerseits und der Natur andererseits. So beleuchtete beispielsweise eine kollektive Publikation von Wissenschaftler*innen aus Südeuropa und Lateinamerika Formen des solidarischen Zusammenlebens und bestehende gemeinschaftliche (Selbst-)Sorgestrukturen in diesen Regionen (Vega Solís et. al., 2018). Anthropologische Ansätze zeichneten eine große Bandbreite der alltäglichen Strategien auf, wie familiäre Sorgearbeitende eine Architektur der sozialen Zeit aufbauen, die gesellschaftliche Care-Strukturen in den Mittelpunkt stellt (Pérez Haro, 2018).

Foto: Claudio Princivalle (CC BY-SA 2.0)

Im Plenum wies die Ökonomin Corina Rodríguez auf die Dringlichkeit hin, Care im Zentrum der politischen Debatte um soziale Gerechtigkeit zu positionieren und nicht nur im Kontext von Genderungleichheiten zu thematisieren. Der Kongress machte deutlich, dass Sorge ins Herz der politischen Debatten zu tragen, auch bedeutet, nach pluralistischen Formen der Demokratie zu suchen, solidarische Wirtschaftsformen zu entwerfen sowie für ein Miteinander mit der Natur und dem nichtmenschlichen Leben einzustehen. „Miradas Latinoamericanas al Cuidado“ markiert den Beginn eines regionalen Dialogs und eröffnet Möglichkeiten, über Ländergrenzen hinweg eine Transformationsstrategie zu erarbeiten, welche die Sorge, Selbstsorge und lebenserhaltende Strukturen in den Mittelpunkt von gesellschaftspolitischen Prozessen stellt. Der Kongress schloss mit der Gründung des Forschungsverbunds „Red Latinoamericana de Estudios sobre Género y Cuidados“ ab. Kritische Stimmen von Care-Arbeitenden forderten ein, dass der zweite, für das Jahr 2020 angesetzte Kongress, eine größere Praxisnähe und mehr Pluralität anstreben sollte.

Zusammenarbeit zwischen den Care Netzwerken von Uruguay und Mexiko

Parallel zum Kongress veranstalteten „Red Pro Cuidados“ aus Uruguay und „Red de Cuidados“ aus Mexiko ein Forum zum Thema soziale Mobilisierung und politische Arbeit für gerechte Care-Strukturen durch Care-Arbeitende, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen. Beide Netzwerke sind Zusammenschlüsse von diversen Initiativen der organisierten Zivilgesellschaft, Kollektiven sowie Einzelpersonen, die sich vernetzen, um einen aktiven gesellschaftlichen Dialog über das Recht auf Care anzustoßen sowie die Errichtung von ganzheitlichen Care-Systemen im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge einzufordern.

Was sind Grundansichten beider Netzwerke?

Copyright: Red Pro Cuidados Uruguay

Zunächst stellen beide Netzwerke fest, dass sowohl in Uruguay als auch in Mexiko weitreichende Care-Lücken durch die unbezahlte bzw. ehrenamtliche Arbeit im gemeinschaftlichen Raum, im Haushalt und durch prekäre Beschäftigung gelöst werden. In beiden Ländern sind es hauptsächlich Frauen, häufig bereits im Kindesalter, die die tägliche Bürde der ungerecht organisierten Care-Strukturen tragen. In einem Kontext, in dem Sorge und Selbstsorge nicht als gemeinschaftliche Verantwortung begriffen werden, hängt menschliches Wohlbefinden von dieser isolierten, unsichtbaren, feminisierten Arbeit ab. Diese Logik individualisiert die Verantwortung und macht die Sorgearbeit zu einer der Hauptquellen sowie Verstärkungsfaktoren der sozialen Ungleichheiten – entlang der Geschlechterlinie und zwischen Frauen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe, Ethnien, Altersgruppen und Migrationsstatus. Denn wenn soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen nicht vorhanden sind, welche Care zu einer gemeinschaftlichen Verantwortung machen, dann verfolgen die Menschen in den jeweiligen Haushalten die Befriedigung ihrer Bedürfnisse gemäß ihrer Kaufkraft. Das festigt die Privilegien der gut situierten Bevölkerung und zementiert die bestehende Armutsspirale der verdrängten Gesellschaftsschichten und zukünftiger Generationen. Deshalb ist es unabdingbar, solidarische Formen des Miteinanders zu erschaffen, in denen die unbezahlte und bezahlte Haushalts– und Sorgearbeit gerecht organisiert sind und die Sorge ein unabdingbares Grundrecht aller Menschen darstellt.

Copyright: Red de Cuidados en México

Beide Netzwerke kommen in der Überzeugung zusammen, dass die Gesellschaften, denen sie entspringen, in der Lage sind, gemeinschaftliche Vereinbarungen zu treffen, bei denen Care einen anderen Stellenwert einnimmt und Menschen sorgen können, ohne sich selbst aufopfern zu müssen. Im Horizont beider Netzwerke befinden sich Gesellschaften, in denen alle Menschen reale Möglichkeiten haben, um (Selbst-)Sorge zu leben, wo alle in gerechten Strukturen sorgen, wo alle genügend und gute Sorge erfahren und ihre menschliche Würde respektiert wird.

Was ist die Grundmotivation beider Netzwerke?

Einige Länder folgen bereits dem Beispiel von Uruguay und beide Netzwerke sind davon überzeugt, dass viele weitere nachziehen werden. Im Rahmen des Forums entschieden sich „Red Pro Cuidados“ und „Red de Cuidados en México“ dazu, eine Kooperation einzugehen, um diese Prozesse in Uruguay und Mexiko zu stärken.

Beide Netzwerke wissen um ihre demokratische Verantwortung, gerechte öffentliche Care-Strukturen bei ihren Regierungen einzufordern. Es hat viel Arbeit bedeutet, das Recht auf Care zu einem Thema der öffentlichen Debatte zu machen. Dies hat viel Mobilisierungs- und Überzeugungstätigkeit, Allianzen und Dialoge erfordert. Was haben die Netzwerke hieraus gelernt? Was waren die Meilensteine im Prozess in Uruguay? Welche Faktoren des politischen und sozialen Kontexts begünstigten diese Entwicklung? Welche für Spuren hinterlässt der Prozess in der Gesellschaft? Diesen Fragen gingen beide Netzwerke in diesem ersten Forum nach.

Die Zusammenkunft führte zu dem Konsens, dass der gesellschaftliche Kontext stets entscheidend ist und dass es keine allgemeingültigen Rezepte geben kann. Der Aufbau von gerechten Care-Systemen erfordert die Politisierung der Sorgearbeit im Alltagsleben der Menschen. Hierbei müssen die organisierte Zivilgesellschaft und Bürger*inneninitiativen eine tragende Rolle einnehmen. Aus diesem Grund trafen „Red Pro Cuidados“ und „Red de Cuidados en México“ die Vereinbarung, eine Allianz aufzubauen. Das Ziel ist ein gemeinsamer strategischer Reflexionsprozesse, um wichtige Lektionen zu identifizieren, zu dokumentieren und zu kommunizieren, die auch für andere Netzwerke nützlich sein könnten. Beide Netzwerke systematisieren derzeit die Strategien, Fortschritte und aktuellen Herausforderungen ihrer organisatorischen und politischen Arbeit. Das nächste Ziel besteht darin, eine gemeinschaftliche Beobachtungsplattform der öffentlichen Care-Programme in beiden Ländern anzustoßen. Mittelfristig möchten beide Netzwerke den strategischen Austauschprozess mit weiteren Netzwerken, sowohl in der lateinamerikanischen Region als auch außerhalb, stärken. Hierzu ist „Red de Cuidados“ aus Mexiko bereits in einen regen und bereichernden Dialog mit „Care Revolution“ in Deutschland getreten. Beide Netzwerke trafen Ende Februar 2019 zu einem strategischen Austausch in einer Video Konferenz zusammen. Diesen eingeschlagenen Weg wollen wir weiter beschreiten, denn eines ist sicher: die effektivsten und radikalsten Lernprozesse entstehen aus dem Miteinander heraus.

#Politicemos El Cuidado¡ Por un cuidado justo, libre y compartido! 

Kontakt

Mail: contacto@reddecuidados.org.mx

Twitter: @RedCuidadosMx

Facebook: Red de Cuidados en México

Bibliographie

Pérez Haro, Y., 2018. En busca del tiempo liberado. Experiencias de autonomía y desigualdad de tiempo en jefas de hogar de la Ciudad de México. Ciudad de México: Universidad Autónoma Metropolitana.

Vega Solís, C., Martínez Buján, R., Paredes Chauca, M. (2018). Experiencias y vínculos cooperativos en el sostenimiento de la vida en América Latina y el sur de Europa, Madrid: Traficantes de Sueños.

Weiterführende Links

Konferenz Miradas Latinoamericanas al Cuidado: http://www.cuidadosygenero.com

Blog von Red Pro Cuidados Uruguay & Red de Cuidados en México: http://www.reddecuidados.org.mx/blog/

Website Red de Cuidados México: http://www.reddecuidados.org.mx/blog/

Website Red Pro Cuidado Uruguay: http://www.redprocuidados.org.uy