‚Care vergesellschaften!‘ Bericht von einer Care Revolution-Veranstaltung am 07.12.2023

Die neu eingerichtete Veranstaltungs-AG im Netzwerk Care Revolution hatte am 7.Dezember die erste Veranstaltung. Als AG suchen wir nach Themen, die für unsere politische Tätigkeit in der Care-Bewegung wichtig sind, und zu denen wir mit anderen Interessierten gemeinsame Fragen bearbeiten können. Spannend wird es gerade dort, wo wir uns unsicher sind und gerne mehr Sicherheit hätten.

Thema der ersten Veranstaltung war ‚Care Vergesellschaften!‘ Dabei stand das „ob“ für uns nicht in Frage – das Ausrufezeichen ist gerechtfertigt. Was genau das aber im Care-Bereich bedeutet und wie es gehen kann, waren unsere Fragen.

Was bedeutet ‚Care vergesellschaften‘?

Wir begannen mit einer kurzen Einführung aus der Vorbereitungsgruppe: Alle, aber insbesondere Menschen mit umfangreichen Sorgeaufgaben und geringem Einkommen, also ohne Zugang zu auf dem Markt erhältlichen Dienstleistungen, sind auf eine funktionierende unterstützende Infrastruktur angewiesen – ob Kita oder Pflegedienst. Dies betrifft insbesondere Frauen, die den Großteil z.B. der Alleinerziehenden und pflegenden Angehörigen ausmachen. Weil Sorge unter kapitalistischen Bedingungen vor allem als Kostenfaktor und nicht als gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird, werden die auf Unterstützung angewiesenen Menschen zunehmend alleine gelassen. Zunehmend werden Care-Bereiche auch so gestaltet, dass es Konzernen erleichtert wird, dort Profite zu machen. Um grundlegend etwas zu verändern, brauchen wir eine Vergesellschaftung der Care-Einrichtungen: Zurückdrängen gewinnorientierter Unternehmen, öffentliche Bereitstellung des bedarfsdeckenden Angebots und demokratische Entscheidungsstrukturen, an denen alle Betroffenen beteiligt sind. Sorge als gesellschaftliche Aufgabe zu verstehen und zu organisieren, bedeutet aber auch, Räume der Selbstorganisation jenseits der Kleinfamilie zu eröffnen und zu unterstützen.

Soweit alles wenig überraschend und häufig gesagt. Allzu selten wird jedoch wahrgenommen, wie unterschiedlich verschiedene Care-Bereiche sind, schon wegen der ganz verschiedenen Bedeutung von beruflicher Arbeit in Care-Einrichtungen und unentlohnter Arbeit in Haushalten, und wie unterschiedlich daher Vergesellschaftungsstrategien sein müssen. Im nächsten Schritt diskutierten wir deshalb in parallelen Gruppen Möglichkeiten der Vergesellschaftung im Gesundheitsbereich, in der Altenpflege und im Care-Alltag. In jeder der Arbeitsgruppen gab es einen Input von Insider*innen: Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärzt*innen und Krankenhaus statt Fabrik, Jona und Nele von der Tagespflege Lossetal, einem Arbeitsbereich der Kommune Niederkaufungen, sowie Heide Lutosch, feministische Aktivistin und Autorin des Buchs ‚Kinderhaben‘.

Gesundheit, Altenpflege und Care-Alltag

In der Gruppe zu Gesundheit wurde als erster Ansatzpunkt genannt, dass die Finanzierung über die Krankenversicherung insbesondere durch die Umstellung auf eine allgemeine Bürger*innenversicherung auf eine breitere, tatsächlich solidarische Basis gestellt werden muss. Auf dieser Basis, erst recht, wenn die Krankenhausfinanzierung von Fallpauschalen auf Kostendeckung umgestellt würde, ließe sich eine Entprivatisierung des Gesundheitssystems angehen. Genossenschaftliche Lösungen sowie demokratisch gestaltete Polikliniken sind Ansätze neben der Kommunalisierung von Einrichtungen. Während ein Einbezug von Patient*innen in die Entscheidungen der Einrichtungen im aktuellen rechtlichen Rahmen kaum möglich ist, stellt die befragende Bedarfsermittlung der Poliklinik-Initiativen eine Form der Partizipation dar.

In der Altenpflege-Gruppe stellten die Referent*innen das Konzept der Tagespflege Lossetal vor. Als Arbeitsbereich der Kommune Niederkaufungen ist sie nicht nur als Beitrag zum kollektiven Einkommen der Kommune, sondern auch als Bestandteil der eigenen Versorgung im Alter gedacht. In der Einrichtung werden ein „alle machen alles“-Prinzip, durch Qualifikationsanforderungen beschränkt, und kollektive Lösungsfindungen praktiziert. Auch hier erschwert der rechtliche Rahmen umfassende kollektivwirtschaftliche Lösungen. Doch schon die Ausnutzung der aktuellen Spielräume ermöglicht den im Kollektiv Arbeitenden mehr gegenseitige Unterstützung und Abwechslung; die gepflegten Personen erleben die Pfleger*innen umfassender. Der Fokus lag auf dem Beispiel der Tagespflege Lossetal; diese ermöglicht es auf Pflege Angewiesenen, länger zu Hause zu bleiben. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Altenpflegebereich, in dem Pflege großenteils zu Hause stattfindet (84% der zu Pflegenden, von denen fast niemand einen Tagespflegeplatz hat; 16% werden stationär in Pflegeheimen betreut).

Mit der unentlohnten Care-Arbeit setzte sich die dritte Gruppe ‚Care-Alltag‘ auseinander. Im einleitenden Input stellte Heide Lutosch am Beispiel des Einkaufens und Kochens heraus, dass gemeinschaftliche Versorgung nicht nur kommunikativer ist und Ressourcen spart, sondern auch weniger Arbeitszeit erfordert. Allerdings ist die Vorstellung, als isolierter Schritt und selbstorganisiert das Kochen zu vergemeinschaften, problematisch, denn dies ist wegen der teuren logistischen Voraussetzungen nur wenigen zugänglich und führt leicht zu elitären, karitativen oder kommerziellen Lösungen oder der Überforderung Hauptverantwortlicher. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Einbettung: Einzelne Care-Aufgaben zu kollektivieren, ist absolut erstrebenswert, benötigt aber einen Rahmen: Absicherung z.B. durch Lohnarbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich oder Unterstützung z.B. durch die Bereitstellung nutzbarer Räume oder auch den Aufbau von Gemeinschaften, in denen die gesamte (die AG beschränkte sich auf die nicht unmittelbar affektive Care-Arbeit) Care-Arbeit kollektiv gestaltet wird. „Kleine“, ergänzende Lösungen wie „Küchen für alle“ sind keine Vergesellschaftung von Care-Arbeit, eröffnen aber wichtige Erfahrungsräume.

Ein übergreifendes Projekt der Vergesellschaftung?

Im letzten Schritt versuchten wir die Erfahrungen aus den so unterschiedlichen Bereichen zu verbinden. Ein paar Gemeinsamkeiten lagen auf der Hand: Zunächst werden sowohl öffentliche Care-Einrichtungen als auch selbstorganisierte Care-Strukturen durch den gesetzlichen Rahmen behindert oder gefördert. Rechtliche Grenzen für umfassende Demokratisierung, die Exklusivität des Elternstatus oder die gegenwärtige Pflegefinanzierung stellen solche Hindernisse dar. Dagegen eröffnen eine umfassende Erwerbsarbeitszeitverkürzung, eine sanktionsfreie Existenzsicherung oder nutzbare Räume in öffentlichen Sorgezentren neue Möglichkeiten. Das bedeutet, dass eine grundlegende Veränderung nicht nur Projekt für Projekt angegangen werden kann, sondern dass es auch um den großen Rahmen geht. Allerdings zeigen die verschiedenen Projekte wie die Kommune Niederkaufungen oder die Poliklinik-Initiativen, dass auch im bestehenden Rahmen schon manches möglich ist, was sowohl unmittelbar bessere Unterstützung und Versorgung schafft als auch einen Blick eröffnet, wie es sein könnte. Wichtig ist es für die einzelnen Projekte, widerständig zu bleiben.

Widerständig zu bleiben, ist für einzelne Menschen und Experimente angesichts der Verhältnisse äußerst schwer. Enttäuschungen und Kompromisse liegen nahe. Umso wichtiger sind Verbindungen, die auf die Vergesellschaftung ganzer Care-Bereiche zielen. In Bewegung zu bleiben, auch Normen und Einsamkeitserfahrungen entgegenzuwirken, ist ein notwendiger Bestandteil der Care-Bewegung. Hier gab es den wertvollen Hinweis, dass die Vorstellung der Einsamkeit im Kapitalismus auch nicht überdehnt werden sollte: Im Betrieb, aber auch an anderen Orten, kommen Menschen zusammen und haben die Option der Solidarität. Ins Spiel gebracht wurde auch das Konzept sorgender, solidarischer Städte, als Querschnitt der verschiedenen Care-Bereiche und unterschiedlichen Sorgekonstellationen.

Es lassen sich für die Teilnehmer*innen also einige Anregungen mitnehmen; das Experiment eines dreistündigen Mini-Workshops, so intensiv und fordernd es war, lohnte sich. Auch in diesem groß angelegten Rahmen blieben jedoch zwei Herausforderungen der Vergesellschaftung kaum angesprochen: Wie kommen entlohnt, unentlohnt und selbstsorgend Care-Arbeitende in Vergesellschaftungsprojekten zusammen? Wir schaffen wir es, über lokalen Querschnitt-Projekten den großen Rahmen der Bundes- und Europapolitik als regulierende Ebene nicht zu vergessen?

Noch viel zu tun – auch für die Veranstaltungs-AG. Dank an alle Teilnehmer*innen!