Die drei Großen Zahlen

Interview in der Reihe Perspektiven von Jette Hausotter

In der AG #CloseEconDataGap haben sich feministische Wissenschaftlerinnen zusammengetan, weil sie die ökonomischen Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern nicht nur aufzeigen, sondern auch beziffern wollen. Im Interview erläutern Ulrike Knobloch, Claire Funke, Ulrike Reiche und Christine Rudolf die Kennziffern, die sie auf ihrer Homepage darstellen, beleuchten die Hintergründe und ziehen politische Schlüsse.

Interview: Jette Hausotter, Care Revolution Berlin

Frage: Ihr habt drei Kennziffern definiert und berechnet, um die ökonomische Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in Deutschland auf den Punkt zu bringen. Stellt diese bitte kurz vor.

Christine Rudolf: Die drei Zahlen zeigen die ökonomische Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, die durch die ungleiche Verteilung der unbezahlten und der bezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern entsteht. Die Zahl 380 Mrd. Euro drückt den Gender Overall Earning Gap (GOEG) in absoluten Zahlen aus. So viel verdienen Frauen in einem Jahr in Deutschland weniger als Männer, weil sie sehr viel mehr unbezahlte Arbeiten leisten und deshalb viel weniger einer bezahlten Arbeit nachgehen und weil Frauen für die gleiche bezahlte Arbeit sehr viel weniger Lohn erhalten als Männer (Gender Pay Gap). Frauen arbeiten 60 Mrd. Stunden unbezahlt in Deutschland. In keinem Sektor der bezahlten Wirtschaft wird mehr gearbeitet. Wenn diese Arbeit nach den durchschnittlichen Löhnen in der jeweiligen Tätigkeit bezahlt würde, ergäbe das eine Bruttowertschöpfung von 825 Mrd. Euro und damit mehr als Bund, Länder und Gemeinden in einem Jahr ausgeben.

Frage: Die Zahlen wirken beeindruckend hoch. Es geht um riesige Mengen Geld, die Frauen weniger haben als Männer, und um riesige Mengen Zeit, die Frauen mehr unentlohnt arbeiten als Männer. Ihr wollt aber mit der Initiative nicht einfach alarmieren, sondern ihr wollt strukturelle Zusammenhänge und Ursachen aufzeigen. Worum geht es euch hierbei?

Ulrike Reiche: Unser Anliegen ist es, fundiertes makroökonomisches Allgemeinwissen zu vermitteln. Wir gehen einerseits den strukturellen wirtschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund und zeigen auf, dass auf der Ebene der Makroökonomie bestehende Ungleichheiten nur durch übergreifendes politisches Handeln beseitigt werden können. Die Kinderbetreuung auszuweiten oder eine Mütterrente zu zahlen sind isolierte Maßnahmen und damit nicht mehr als Tropfen auf den heißen Stein – es braucht insgesamt eine Neujustierung des Gesellschaftsvertrages, und zwar in Orientierung an den sehr unterschiedlichen Lebensmodellen und vielfältigen Realitäten der Menschen.
Andererseits wollen wir eine belastbare Diskussionsbasis schaffen und dazu ermutigen, sowohl den individuellen als auch den institutionellen Gestaltungsspielraum auszuloten.

Frage: War es eine Herausforderung, die Kennzahlen zu berechnen? Sind die nötigen Daten einfach zugänglich oder musstet ihr auch Schätzungen und Annahmen zugrunde legen?

Christine Rudolf: Es war eine Herausforderung. Die erste Zahl ist in absoluten Zahlen noch relativ einfach zu berechnen, sie wird auch als Prozentzahl vom Statistischen Amt der Europäischen Union jährlich veröffentlicht. Die zweite Zahl stammt aus der Zeitverwendungsstudie, die das Statistische Bundesamt alle zehn Jahre veröffentlicht. Diese großen Zeitabstände und die späte Veröffentlichung – die letzte Erhebung war 2012 und die Ergebnisse wurden erst 2015 veröffentlicht – lassen die gewünschte Aktualität vermissen. Zum Beispiel jetzt während der Pandemie wäre es wirklich wünschenswert zu sehen, was sich verändert. Es fanden ja unglaublich viele Verschiebungen in die unbezahlte Arbeit statt. Die größte statistische Herausforderung war die dritte Zahl. Hier mussten verschiedene statistische Unterlagen miteinander verknüpft werden, es gibt in Deutschland keine Statistik, die Beschäftigte und ihre Bezahlung nach Geschlecht und Tätigkeiten ausweist. Damit wird die schlechtere Bezahlung von Frauen systematisch verschleiert.

Frage: Lassen sich anhand der Kennziffern Vergleiche mit anderen Ländern ziehen? Was ist euch aufgefallen?

Christine Rudolf: Es gibt Vergleiche mit anderen Ländern, ich habe in einer Arbeitsgruppe mit Schweizer und Österreichischen Kolleginnen diese Zahlen berechnet. In beiden Ländern sind die Größenordnungen der ungleichen Verteilung von Geld und Zeit zwischen den Geschlechtern ähnlich wie bei uns. Es gibt aber auch andere Europäische Länder wie Schweden oder Slowenien, in denen diese Zahlen nur halb so groß sind wie bei uns. Auch wenn wir in Deutschland eine getrennte Analyse nach Ost und West vorlegen würden, wären große Unterschiede zu erkennen. Die gleichberechtigtere Situation von Frauen im Osten wirkt auch heute noch vor allem bei den Löhnen fort.

Frage: Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist gesellschaftlich betrachtet nicht unbedingt so eindeutig, wie solche hochverdichteten Kennzahlen es nahelegen. Die Lebensbedingungen von Männern und Frauen werden ja auch maßgeblich davon geprägt, welche soziale Herkunft oder Position jemand hat, ob jemand rassistisch diskriminiert wird, welche psychischen und körperlichen Voraussetzungen jemand hat. Wie sind die Zahlen vor diesem Hintergrund einzuordnen? Oder anders gefragt: Wie betrachtet ihr als feministische Ökonominnen und Gesellschaftskritikerinnen das Verhältnis von Geschlecht zu anderen Ungleichheitsfaktoren in Bezug auf Arbeit, Zeit und Geld?

Ulrike Reiche: Auf der Ebene der Makroökonomie werden strukturelle Ungleichheiten insgesamt sichtbar gemacht und damit grundsätzlich diskutierbar. Im Zuge unserer Erhebung haben wir ja die verschiedenen Wirtschaftssektoren in Bezug auf Zeit und Geld betrachtet. Bei der Berechnung sind wir an das vorliegende Zahlenmaterial gebunden, das bislang hauptsächlich zwischen Männern und Frauen differenziert und weitere Faktoren weitgehend außen vor lässt. Antworten auf die vielfältigen Fragen, die sich bei näherer Betrachtung der unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten ergeben, müssen im gemeinsamen Diskurs erst noch gefunden werden – hier stehen wir nach unserer Einschätzung am Beginn einer längeren Debatte. Dafür bräuchte es dringend auch noch mehr belastbare und differenzierte Daten, die jedoch mit Blick auf die zunehmende Digitalisierung leichter zugänglich bzw. verfügbar gemacht werden könnten. Wünschenswert wäre zudem, wenn zielgerichtete Forschung in diesem Bereich finanziert werden würde.

Frage: Eine politische Schlussfolgerung liegt nahe: Wir müssen umverteilen. Was schlagt ihr vor, um eine gerechte Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, Macht und Chancen zu erreichen?

Ulrike Knobloch: Das Verteilen ist neben Verlagern, Vermeiden und Verändern eine von vier Möglichkeiten, sich von unbezahlter Haus- und Sorgearbeit zu entlasten. Durch die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit ohne eine vergleichbare abnehmende Männererwerbstätigkeit wurden viele unbezahlte Tätigkeiten monetarisiert, also vom Haushalt in andere Organisationen verlagert bzw. für Leistungen im Haushalt bezahlt. Aber eine völlig durchmonetarisierte Gesellschaft erscheint nicht wünschenswert. Und unbezahlte Arbeit lässt sich auch nur begrenzt vermeiden und verändern.
Beim Umverteilen ist wichtig, was denn gerecht zu verteilen ist: Wenn wir dabeinur auf Erwerbsarbeit, Macht und Chancen im bestehenden, nicht zukunftsfähigen und nicht geschlechtergerechten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem fokussieren, kann das leicht dazu führen, androzentrische, also von männlichen Normen dominierten Strukturen zu zementieren, statt sie zu überwinden. Bezogen auf die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit ist also neben ihrer gerechteren Verteilung und mehr Anerkennung auch eine Reduzierung der Erwerbsarbeit für Alle zu diskutieren, damit überhaupt Zeit für unbezahlte Arbeit inkl. Freiwilligenarbeit bleibt. Eine Aufwertung der Subsistenz, eine Stärkung von Gemeingütern(Commons), die Ausrichtung auf das Entwickeln der menschlichen Fähigkeiten und auf die souveräne Versorgung mit dem zum (guten) Leben Notwendigen sind Ansatzpunkte für ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem fürs 21. Jahrhundert.

Claire Funke: Sorgearbeit wird gesamtgesellschaftlich abgewertet, nur Erwerbsarbeit gilt als Arbeit. Wir brauchen daher einen anderen, erweiterten Arbeitsbegriff, sowie ein Bewusstsein dafür, dass wir alle zu jeder Zeit bedürftig sind und dass die unbezahlte Care-Arbeit lebensnotwendig ist und eine Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft. Als konkretes Beispiel für Umverteilung finde ich die Idee der Care-Abgabe von Tove Soiland interessant. Anna Saave-Harnack (Universität Jena) hat eine Ausarbeitung dazu geschrieben. Es geht hier darum, dass Profite aus Wirtschaftsbereichen, in denen Produktivitätssteigerungen möglich sind, umverteilt werden hin zur Care-Arbeit im öffentlichen und privaten Bereich. Dadurch könnte die Problematik gelöst werden, dass im Care-Bereich Produktivitätssteigerungen, und damit (höhere) Gewinne, nicht oder nur bedingt und dann mit vielen Nachteilen für alle Beteiligten möglich sind.

Frage: Und für uns als Care Revolutionär*innen: Welche Rolle spielt aus eurer Sicht die unbezahlte Care-Arbeit für ein gerechteres ökonomisches Gesellschaftsmodell?

Ulrike Knobloch: Die unbezahlte Care-Arbeit ist der Dreh- und Angelpunkt für die Gestaltung eines zukunftsfähigen und geschlechtergerechtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Feministische Ökonom*innen haben dies in vielfältiger Weise immer wieder deutlich gemacht und es ist erschreckend, dass das nicht längst in Lehre und Forschung, Wirtschaft und Politik selbstverständlich ist.

Claire Funke: Wir müssen unbedingt unsere gesellschaftlichen Werte verändern hin zu einer care-zentrierten Gesellschaft. Kinder z. B. sollten schon damit aufwachsen, dass Care-Arbeit ein zentrales, lebensnotwendiges Thema ist und kein Gedöns oder eine leidige Angelegenheit, die als Privatsache unsichtbar gemacht wird. Dies müssten wir ihnen dann auch vorleben können in dem wir in der Familie/Wahlfamilie ausreichend Zeit für sie und ggf. auch zu pflegende Angehörige hätten  und nicht alles, auch lebensnotwendige Bedürfnisse, der Erwerbsarbeit untergeordnet werden muss. In der Schule sollte das Thema Care und Care-Arbeit auch ein zentrales Thema sein. Kinder und Jugendliche lernen hier dann nicht nur Rechnen und Schreiben, sondern eben u. a.  auch bewusst sich selbst zu reflektieren, Gefühle zu differenzieren (gar nicht so leicht), diese zu artikulieren und damit Beziehungen zu gestalten. Die Antwort auf die Frage, was lebensnotwendige Bedürfnisse sind, ist sicher von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Ein Gedankenexperiment von John Rawls (amerikanischer Philosoph) kann hier vielleicht ein guter Ausgangspunkt sein um Antworten zu finden: Wenn wir nicht wüssten in was für eine Welt wir geboren werden, wie würden wir sie dann gestallten? Wenn wir z. B. nicht wüssten welche Hautfarbe oder welches Geschlecht wir haben, ob wir mit oder ohne Behinderung leben werden, ob in dem Land in dem wir geboren werden Krieg oder Frieden herrscht oder ob wir eine arme oder reiche Familie haben werden mit einfühlsamen oder abweisenden Bezugspersonen usw. Wenn wir andere Fragen stellen, werden wir andere Antworten bekommen, auf die Frage wie ein gutes Leben für alle Menschen aussehen kann und dabei spielt die unbezahlte Care-Arbeit eine zentrale Rolle, weil alle Menschen zu jeder Zeit lebensnotwendige Bedürfnisse haben.