Radikales Handeln und Verbindungen – neue Texte zum (Care-)Aktivismus

Grundsätzlich sehen wir davon ab, auf der Care Revolution-Website Rezensionen einzustellen. Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass wissenschaftliche Texte im Regelfall erst „übersetzt“ werden müssen, damit sie Relevanz für Care-Aktivist*innen erlangen können. Immer wieder jedoch gibt es Texte, die entstanden sind, um Aktivist*innen nützliches Wissen oder Denkanstöße an die Hand zu geben. Von verschiedenen Personen, die enger oder weniger eng mit Care Revolution verbunden sind, wurden in den letzten paar Monaten einige solcher Aufsätze geschrieben. Weil es schade wäre, wenn sie nicht auch im Netzwerk Care Revolution viele Leser*innen finden, folgt hier eine Sammelrezension. Diese Form bot sich an, weil sich die einzelnen Beiträge auf ganz spannende Art ergänzen und im Kopf der Leser*in miteinander ins Gespräch kommen können.

(Drei der fünf dargestellten Texte sind frei zugänglich oder wurden zur Verfügung gestellt; diese haben wir verlinkt. Wegen eines freien Zugangs zu den übrigen Texten haben wir angefragt und werden ggf. einen Link bereitstellen.)

1. Michel Raab: Alles Gute kommt von unten – Radikale Strömungen in der Geschichte sozialer Arbeit. In: Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv BIKO (Hg.): Radikalisiert Euch! Beiträge zu radikaler Theorie und Praxis. Unrast Verlag 2023; S. 105-123

Michel Raab, aktiv im BIKO in Erfurt, betrachtet die Entwicklung von sozialer Unterstützung und sozialer Arbeit im Zeitverlauf. Dabei zeigt er, dass staatliche Unterstützungsmaßnahmen immer wieder in Reaktion auf Widerstand und Selbstorganisation ausgebaut wurden. Dies wird anhand dreier Phasen demonstriert: Auf das Aufkommen der Arbeiter*innenbewegung, die auch Unterstützungskassen selbst organisierte, wurde mit dem Verbot der Sozialdemokratie und seit 1883 der Einrichtung einer Sozialversicherung reagiert. Ähnlich entstanden zu Beginn der Weimarer Republik an die linken Parteien angebundene Selbsthilfeorganisationen, die im Faschismus zerschlagen und in der BRD dann als Träger in die Mechanismen des Sozialstaats integriert wurden. Im Zuge der 68er-Bewegung schließlich wurden insbesondere selbstverwaltete Strukturen wie Jugendzentren und Frauenhäuser aufgebaut. In der aktuellen Situation geraten diese Strukturen sozialer Arbeit in Gefahr, sich etwa im Zuge des „Demokratieförderungsgesetzes“ für Entradikalisierung vereinnahmen zu lassen. So sind, dies ist Michel Raabs Fazit, soziale Einrichtungen Folge sozialer Kämpfe. Als Institutionen können und sollten sie auch zur Veränderung der Verhältnisse beitragen. In einer Schwächephase emanzipatorischer Bewegungen sollten die Einrichtungen zumindest „den Bewegungsakteur*innen nicht in den Rücken fallen, indem sie deren radikalere Anliegen und Aktionsformen delegitimieren.“ (120)

2. Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg: 40 Jahre ALSO. Spontaneität – Kontinuität – Organisation. Ein Rückblick und Ausblick. In: Anne Seeck u.a. (Hg.): KlassenLos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten. Die Buchmacherei 2023; S. 88-109

Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg ist ein Beispiel für das, was Michel Raab einfordert: Ein radikales politisches Projekt, das die Beratung insbesondere von Erwerbslosen und migrantischen prekär Beschäftigten mit gemeinsamen Aktionen und Organisierung verbindet. In dem Beitrag zeichnen die ungenannt bleibenden Autor*innen die Entwicklung der Beratungsstelle und der von der ALSO ausgehenden Aktionen in Zusammenhang mit der ökonomischen und sozialpolitischen Entwicklung nach. Dabei zeigen sie, wie sich die sozialen Bewegungen, hier insbesondere die Erwerbslosenbewegung, in Wechselwirkung mit diesen Verhältnissen entwickeln. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen sprechen sich die Autor*innen, um die für langfristige Organisierung wichtige Konstanz und Professionalität zu sichern, für eine gewisse Institutionalisierung aus. Besonders spannend ist die Beschreibung, wie die ALSO auf die Zunahme prekärer und uneindeutiger Lebenslagen zwischen Erwerbslosigkeit und prekärer Beschäftigung mit ganz unterschiedlichen Formen juristisch erzeugter Unsicherheit reagierte: Die Erwerbslosenberatung wurde zu einer allgemeinen Beratung und Unterstützung in prekären Lebenslagen gerade auch für Arbeitsmigrant*innen ausgebaut, es wurden Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen geknüpft, z.B. zwischen Erwerbslosen, die von ihrem Transfereinkommen Lebensmittel kaufen müssen, und Landwirt*innen, die vom Verkauf ihrer Produkte leben müssen, und das Zentrum als Ort der Beratung wird zu einem sozialen Zentrum ausgebaut. Eine Politik, die die eigenen materiellen Errungenschaften auf Kosten des globalen Südens oder marginalisierter Gruppen hier verteidigt oder diesen Zusammenhang auch nur ignoriert, lehnt die ALSO entschieden ab und ist auch in diesem Sinn radikal. Sehr beeindruckend geschildert steht im Kern ihrer Argumentation, dass es nicht nur um Beratung geht, sondern dass Orte und Bündnisse geschaffen werden sollen, damit von ihnen widerständige Praxis ausgeht. „(Es sollte) in allen Städten soziale Zentren mit vielen Räumen, mit moderner Kommunikationstechnik, mit Möglichkeiten zum Treffen, aber auch zur Alltagsgestaltung mit Küche und Kultur von und für alle geben. Das wäre ein Stück notwendige Infrastruktur für Vernetzungen verschiedener alternativer Ansätze.“ (107)

3. Barbara Fried, Alex Wischnewski: Feministisch vergesellschaften. Kommunalpolitische Strategien für eine sorgende Stadt. In: Communia, BUNDjugend (Hg.): Öffentlicher Luxus. Dietz Verlag 2023; S. 64-89. Auch als frei zugängliche PDF: https://dietzberlin.de/wp-content/uploads/2023/10/Oeffentlicher_Luxus_digital.pdf

Im von Barbara Fried und Alex Wischnewski vorgestellten Projekt sorgender Städte steht im Mittelpunkt, „das Ganze der Sorgearbeit zu vergesellschaften, sie also in einem umfassenden Sinne in gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen.“ (69) Dies geschieht zum einen dadurch, dass Einrichtungen der Care-Infrastruktur – Kitas, Krankenhäuser usw. – wieder in öffentliche Hand gelangen. Aber es sollen auch die Arbeiten, die bislang jeweils isoliert in Kleinfamilien stattfinden, reorganisiert werden. Während die Vorstellungen zu einer Entprivatisierung der Care-Infrastruktur einschließlich Finanzierung und demokratischer Ausgestaltung recht detailliert sind und am Beispiel von Altenpflegeeinrichtungen entwickelt werden, bleibt die Reorganisation des häuslichen Reproduktionsbereichs recht vage. Das lässt sich als Manko oder unzureichende Kritik der Institution Kleinfamilie lesen, verweist aber auch darauf, wie notwendig eine gemeinsame Praxis ist, die solche Fragen erst diskutierbar macht. Wie wichtig den Autorinnen diese Diskussion ist, zeigt sich darin, dass der doppelten Vergesellschaftung eine doppelte Demokratisierung zur Seite gestellt wird: Eine Bedarfsermittlung und Planung mit Beteiligung aller Betroffenen sowie gemeinschaftliche, selbstorganisierte Sorge-Settings. Sorgende Städte wären in diesem Sinn Städte, in denen Care demokratisch zum Nutzen und unter Mitentscheidung aller und ohne Ausschlüsse organisiert wird, deren Raumgestaltung und deren Raumnutzung sich entsprechend verändert und in denen Prozesse in Gang gesetzt werden, die bestehende Geschlechternormen in Frage stellen. Die Autorinnen suchen nach Einstiegsprojekten und stellen hierbei die Verzahnung der lokalen mit anderen staatlichen Ebenen heraus. Auch sie stellen, wenn auch zurückhaltender als die ersten Texte, heraus, dass es von der Praxis der Projekte abhängt, „ob solche realpolitischen Eingriffe transformatorischen oder lediglich reformerischen Charakter entwickeln“. (79)

4. Gabriele Winker: Solidarität statt Konkurrenz. Soziale Beziehungen als Zentrum emanzipatorischer Politik. In: Anne Seeck u.a. (Hg.) 2023; S. 194-199 (PDF hier)

Die Bedeutung einer umfassenden und entschlossenen sozialen Bewegung dafür, dass sich progressive Projekte ihren emanzipatorischen Charakter erhalten können, wurde in den bislang angeführten Texten zuvor immer wieder benannt. ALSO zog auch die Schlussfolgerung, entsprechende, Teilbewegungen übergreifende Bündnisse herzustellen, im Landwirtschaftsbereich oder angesichts der Realeinkommensverluste durch die Inflation. Im Sammelband, in dem auch der Text von ALSO erschienen ist, argumentiert Gabriele Winker, in der Freiburger Regionalgruppe von Care Revolution engagiert und Autorin von Büchern zum Thema ‚Care Revolution‘, dass soziale Bewegungen letztlich von der kapitalistischen Produktionsweise vor eine gemeinsame Aufgabe gestellt werden: Weder der Klimakatastrophe noch der Überlastung Sorgearbeitender, der wachsenden Armut vieler Menschen und den Kriegen um Einflusssphären und Ressourcen lässt sich im Rahmen dieses Gesellschaftssystems dauerhaft begegnen. Um Kraft auch nur für erste Schritte zu gewinnen, braucht es ein gemeinsames Vorgehen; dieses gemeinsame Vorgehen wiederum erfordert Projekte, in denen sich Aktivist*innen und empörte Menschen zusammenfinden können. Diese Projekte sollen für die Anliegen mehrerer Bewegungen relevant sein, und sie sollen die Lage Betroffener unmittelbar verbessern und zugleich über den Kapitalismus hinausweisen. Vergesellschaftung der sozialen Infrastruktur, erwerbsunabhängige Absicherung, Erwerbsarbeitszeitverkürzung und Selbstorganisation in Commons sind zentrale Bestandteile von Care Revolution als einer Transformationsstrategie, die diesen Anspruch revolutionärer Realpolitik hat. Auch Gabriele Winker geht es also um Verbindung; wo bei ALSO Orte im Mittelpunkt stehen, sind es bei ihr politische Projekte. Dies bedeutet eine andere Schwerpunktsetzung, aber keinen Widerspruch: Von sozialen Zentren aus wurden und werden Forderungen erhoben und Aktionen organisiert; politische Bündnisse treffen sich an konkreten Orten und nehmen diese ein, wie in der ‚Platz für Sorge‘-Kampagne.

5. Konzeptwerk Neue Ökonomie: Bausteine für Klimagerechtigkeit. 8 Maßnahmen für eine solidarische Zukunft. Oekom Verlag 2023. Auch als frei zugängliche PDF: https://www.oekom.de/buch/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit-9783987260735

Gemäß dem begrenzten Raum im Beitrag für den Sammelband reißt Gabriele Winkers Text nur an, wie die vorgeschlagene Transformationsstrategie die Themen verschiedener Bewegungen adressiert. In ihrem aktuellen Buch ist dies ausführlicher entwickelt. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie ist derselben Frage nachgegangen mit dem Schwerpunkt, wie eine Verbesserung der Lebensbedingungen mit dem Ziel einer global teilbaren Lebensweise zusammengeht. Im Kern stehen acht Maßnahmen, von Erwerbsarbeitszeitverkürzung über Steuerpolitik und Bodenpolitik bis zu Grundeinkommen und Wohnraumverteilung. Im Beitrag zur Erwerbsarbeitszeitverkürzung etwa zeigt sich, dass die Begrenzung der Güterproduktion und die gerechtete Verteilung der unentlohnten Sorgearbeit mitgedacht werden. Zudem wurden den Bausteinen weitere Themen, darunter zur Gesundheitsversorgung, hinzugefügt. Diesem Beitrag gerät das Zusammenspiel entlohnt und unentlohnt Arbeitender sowie Patient*innen etwas aus dem Blick, so dass allein die Beschäftigten in Krankenhäusern und Polikliniken als Akteur*innen der Veränderung erscheinen. Aber auch hier wird konstatiert: „Ähnlich wie bei der Durchsetzung einer Erwerbsarbeitszeitverkürzung sind die feministische und Care-Bewegung, die Klimagerechtigkeitsbewegung sowie Gewerkschaften aktive Verbündete.“ (290)

Ohne diese Verbindung und ohne die Überschreitung von Szenegrenzen, dies ist die Gemeinsamkeit der Texte, geht es nicht. Orte der Emanzipation sind auf eine lebendige Bewegung angewiesen, diese auf erfahrbare Orte und Projekte, an denen ein zunächst abstraktes Bündnis zu einer lebendigen Praxis werden kann und in denen gemeinsamer Widerstand und wechselseitige Unterstützung praktiziert werden. Dabei finden sich in den Beiträgen – implizit oder explizit – unterschiedliche Analysen und Handlungsvorschläge, die sicherlich keine Gruppe alle parallel angehen kann. Aber alle Beiträge zusammen öffnen einen Raum, in dem eine Care-Bewegung gut aufgehoben wäre.