Eine Vorstellung des Respekt-Netzwerks im Kreis Heinsberg/NRW
Wir freuen uns, dass Hêvîdar Işik diesen Beitrag für unsere Website zur Verfügung stellt. Sie studiert Labour Studies und Social Policy an den Universitäten Bremen und Mailand. Für ihre Abschlussarbeit untersucht sie die Netzwerke Respekt@vpod in der Schweiz und Respekt in Deutschland und deren Strukturen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Live-in-Betreuungskräften.weiterlesen
Alle zehn Jahre veröffentlicht das Statistische Bundesamt eine Zeitverwendungserhebung. Diese bestätigt uns regelmäßig darin, dass die unentlohnte Arbeit den Großteil der gesellschaftlichen Arbeit ausmacht und die geschlechterhierarchische Arbeitsteilung trotz aller Kämpfe und Kritik ungeheure Hartnäckigkeit besitzt. Aber auch die Veränderungen zwischen den Erhebungen sind für unsere Praxis wichtig. Matthias Neumann hat einen Überblick über diese Veränderungen versucht; wir freuen uns – wie immer! – über Kritik und Diskussionsbeiträge. Der Text ist unten oder hier als PDF zu lesen.weiterlesen
Ein zentrales Thema des Netzwerks Care Revolution ist, auf die allzu häufig übersehene und abgewertete unentlohnte Care-Arbeit hinzuweisen und die zu unterstützen, die sie tun. Im folgenden Beitrag weist Viola Schubert-Lehnhardt auf Bereiche hin, die noch mehr als andere ausgeklammert werden.
Auf einem Fachtag des Arbeitskreises Frauengesundheit (AKF) in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V. am 3.11.23 unter dem Titel „Ungewollte Kinderlosigkeit – vom Mythos der grenzenlosen Machbarkeit und den Schattenseiten der Reproduktionsmedizin“ wurde das Thema „Eizellspende und Leihmutterschaft“ aus juristischer, medizinischer, gesellschaftspolitischer und philosophisch-ethischer Sicht beleuchtet. Dem AKF erschien dieser Fachtag notwendig, weil es in der bisherigen öffentlichen Diskussion überwiegend um die Nöte, Wünsche, Ansprüche und vermeintlichen Rechte von sogenannten Wunscheltern ging und weniger um die anderen zwangsläufig Beteiligten: die Eizellgeberinnen, die austragenden Frauen und die aus den Behandlungen entstehenden oder schon entstandenen Kinder. Noch weniger analysiert wurden in den gegenwärtigen Debatten die wirtschaftlichen Interessen der reproduktionsmedizinischen Zentren, der Agenturen und der schon heute international agierenden medizinischen Konzerne. Deren Interessen sind teilweise durchaus anders gelagert als die der beteiligten Frauen bzw. Paare. Gleichfalls zur Debatte stehen damit die wiederholt auch anderenorts gestellten Fragen nach den Aufgaben des Gesundheitssystems bzw. dem Auftrag der Medizin.weiterlesen
Der folgende Text ist die schriftliche Fassung eines Redebeitrags, den Matthias Neumann, als Aktiver im Netzwerk Care Revolution eingeladen, auf einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Arbeitszeitpolitik am 14.10.23 in Berlin gehalten hat. Mit diesem Thema beschäftigt sich auch die AG Erwerbsarbeitszeitverkürzung im Netzwerk Care Revolution. Interessent*innen an einer Mitarbeit in der AG sind herzlich willkommen und schreiben ag-eazv@care-revolution.org an.weiterlesen
Wir dokumentieren hier einen Redebeitrag von Gabriele Winker (Care Revolution Freiburg) zum Thema. Sie argumentiert, dass eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit von zentraler Bedeutung im Rahmen einer sozialökologischen Transformation ist. Sie ist ein wichtiger Schritt hin zu einer Gesellschaft, die statt Wachstum und Profit reiche soziale und Sorgebeziehungen und die Respektierung der Belastungsgrenzen der Ökosysteme unterstützt.weiterlesen
In diesem Beitrag stellt Elfriede Harth von der Care Revolution-Regionalgruppe Rhein/Main dar, weshalb und mit welchen Forderungen sich die Gruppe am globalen Aktionstag für sicheren Schwangerschaftsabbruch (28.09.) beteiligt.
Seit einigen Jahren wird auch in Deutschland der 28. September als globaler Aktionstag für einen sicheren Schwangerschaftsabbruch begangen. Wie auch andere feministische Aktionstageliegt der Ursprung des 28. Septembers in Lateinamerika. 1990 beschlossen Feministinnen aus Lateinamerika und der Karibik diesen Tag als Aktionstag für die „Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Lateinamerika und der Karibik“ zu begehen.weiterlesen
In Deutschland und anderen Staaten gerät gegenwärtig die Demokratie als Staatsform unter Druck. Angesichts der Krisen in Folge der Überlastung der ökologischen Kreisläufe und der Sorgearbeitenden greifen Staaten zunehmend auf autoritärere Lösungen zurück. Zudem nimmt angesichts der zunehmend prekären Lebenslagen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu, zumal Regierungen ihre Politik immer mehr als alternativlos und nicht diskutierbar darstellen: Die Veränderungen werden als Bedrohung erlebt, machen Angst, machen aggressiv. Gleichzeitig finden die von der Krise massiv Betroffenen kein Gehör.weiterlesen
Wir dokumentieren hier eine Rede, die am 1. Mai 2022 von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) vor einem Oldenburger Jobcenter gehalten wurde. Die ALSO ist Kooperationspartnerin im Netzwerk Care Revolution. In der Rede werden Punkte angesprochen, die vielleicht erst auf den zweiten Blick mit Sorgearbeit zu tun haben: Der Umgang mit armen Menschen in der Corona-Pandemie, die je nach Herkunft unterschiedliche Behandlung von Geflüchteten, die Folgen des Kriegs in der Ukraine, auch hinsichtlich einer Verschiebung der Geschlechterrollen. Die Rede von ALSO bezieht diese Themen auf die politische und beratende Tätigkeit der Organisation. Dabei machen sie deutlich: Welche Bedingungen für Leben und soziale Beziehungen die Herrschenden schaffen, bestimmt auch die Bedingungen der Sorge füreinander. Sozial-, Migrations- und Kriegspolitik haben für Sorgebeziehungen einschneidende Bedeutung.
Interview in der Reihe Perspektiven vonJette Hausotter
In der AG #CloseEconDataGap haben sich feministische Wissenschaftlerinnen zusammengetan, weil sie die ökonomischen Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern nicht nur aufzeigen, sondern auch beziffern wollen. Im Interview erläutern Ulrike Knobloch, Claire Funke, Ulrike Reiche und Christine Rudolf die Kennziffern, die sie auf ihrer Homepage darstellen, beleuchten die Hintergründe und ziehen politische Schlüsse.
Interview: Jette Hausotter, Care Revolution Berlin
Frage: Ihr habt drei Kennziffern definiert und berechnet, um die ökonomische Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in Deutschland auf den Punkt zu bringen. Stellt diese bitte kurz vor.
Christine Rudolf: Die drei Zahlen zeigen die ökonomische Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, die durch die ungleiche Verteilung der unbezahlten und der bezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern entsteht. Die Zahl 380 Mrd. Euro drückt den Gender Overall Earning Gap (GOEG) in absoluten Zahlen aus. So viel verdienen Frauen in einem Jahr in Deutschland weniger als Männer, weil sie sehr viel mehr unbezahlte Arbeiten leisten und deshalb viel weniger einer bezahlten Arbeit nachgehen und weil Frauen für die gleiche bezahlte Arbeit sehr viel weniger Lohn erhalten als Männer (Gender Pay Gap). Frauen arbeiten 60 Mrd. Stunden unbezahlt in Deutschland. In keinem Sektor der bezahlten Wirtschaft wird mehr gearbeitet. Wenn diese Arbeit nach den durchschnittlichen Löhnen in der jeweiligen Tätigkeit bezahlt würde, ergäbe das eine Bruttowertschöpfung von 825 Mrd. Euro und damit mehr als Bund, Länder und Gemeinden in einem Jahr ausgeben.
Frage: Die Zahlen wirken beeindruckend hoch. Es geht um riesige Mengen Geld, die Frauen weniger haben als Männer, und um riesige Mengen Zeit, die Frauen mehr unentlohnt arbeiten als Männer. Ihr wollt aber mit der Initiative nicht einfach alarmieren, sondern ihr wollt strukturelle Zusammenhänge und Ursachen aufzeigen. Worum geht es euch hierbei?weiterlesen
Beitrag in der Reihe Perspektiven vonJana Vasil’eva
Jana Vasil’eva ist Gründerin des Care Netzwerks in Mexiko und aktives Mitglied von Yo Cuido México, das sich aus Organisationen, Gruppen, feministischen Aktivist*innen, Care Arbeitenden, Akademiker*innen zusammensetzt, die daran interessiert sind, eine Agenda für soziale Gerechtigkeit aufzubauen, die Care in ihren Mittelpunkt stellt.
Lateinamerika ist eine Region, die von starker sozialer Ungleichheit geprägt ist. Die Ungleichheit hat viele Gesichter: den Reichtum einiger sehr weniger gegenüber der Armut der vielen, fehlende Bildungschancen – denn Bildung ist teuer in Lateinamerika -, unzureichende und fragmentierte Gesundheitssysteme und nicht vorhandene soziale Sicherungssysteme. Hinzu kommen Rassismus, Gewalt, insbesondere gegen Frauen, Indigene, Afrolatinas/os oder Angehörige sexueller Minderheiten sowie ein hohes Maß an Kriminalität. Starke Migrationsbewegungen aus Zentralamerika und Mexiko in Richtung USA und aus Venezuela in Richtung Kolumbien, Chile oder Peru sind nicht zuletzt eine Folge der vielfältigen sozialen Probleme, welche die Lebensverhältnisse weiter Bevölkerungsteile beeinträchtigen.
Die Coronavirus-Pandemie hat auf beispiellose Weise die soziale Unsichtbarkeit der Sorgearbeit in den Volkswirtschaften der lateinamerikanischen Region deutlich gemacht und die Prekarität der bezahlten Care-Arbeitenden, sowie die zentrale Bedeutung der unbezahlten Care-Arbeit, aufgezeigt. So verstärken sich die sozialen und öffentlichen Debatten um das Recht auf Care. Zugleich erfordert die Bekämpfung der Ungleichheit zwangsläufig, sich mit einer der grundlegenden und gleichzeitig unsichtbarsten Säulen der Gesellschaft zu befassen: der Care-Ökonomie.
Hier sind derzeit interessante Entwicklungen zu beobachten, denn die Region ist auch der Vorreiter des Globalen Südens im Unterfangen, öffentliche Care-Systeme einzuführen. Der Ansatz im Aufbau der Care-Systeme besteht darin, ein aufeinander abgestimmtes Angebot von Care-Dienstleistungen und Infrastruktur zu erschaffen sowie gesellschaftliche Zeit für Care einzuräumen. Die langfristige Vision ist die Errichtung von universell zugänglichen sozialen Existenzsicherungssystemen. 2015 hat Uruguay hierfür den Grundstein gelegt und viele Länder sind dabei, nachzuziehen: So wird derzeit in Argentinien, Kolumbien und Mexiko analysiert und diskutiert, wie solche Systeme im Kontext dieser deutlich bevölkerungsreichen Länder und komplex gestalteten Volkswirtschaften eingeführt werden könnten.
Politisierung von Care in Mexiko
In Mexiko wird Care nicht als Recht anerkannt. Laut dem statistischen Bundesamt wendet die Bevölkerung ab 12 Jahren die Hälfte ihrer Gesamtarbeitszeit für unbezahlte Arbeit auf, d. h. 2.796 Millionen Stunden pro Woche. Die Personen, die diese Arbeit ausführen, bekommen kein Gehalt für diese Arbeit, sie haben keine Arbeitsrechte oder soziale Absicherung, sie erhalten keine Ausbildung, weder ihre körperliche, geistige und seelische Gesundheit noch genügend Ruhe und Zeit für Muße sind ihnen als Recht zugestanden. Drei Viertel der Arbeitszeit, die im Land für diese Aufgaben aufgewendet werden, werden von Frauen, Mädchen und Jugendlichen geleistet; noch mehr, wenn sie in prekären Lebensverhältnissen leben. Eine Bewegung aus Aktivist*innen, Politiker*innen, Akademiker*innen und Kollektiven bringt Care-Themen in die öffentliche und politische Debatte ein. Sie hat erreicht, dass in der Verfassung von Mexiko-Stadt im Jahr 2018 das Recht auf Care und Zeit festgeschrieben wurde. Dieser historische Schritt ermutigte eine breiter aufgestellte Bewegung „für ein Mexiko, das sorgt“ (span.: „Por un México que cuide“). 2019 konsolidierte sich das Kollektiv Yo Cuido México, das unbezahlte Care Arbeiter*innen aus verschiedenen Bundesstaaten der Republik zusammenbringt. Dieses Kollektiv ist Teil einer überregionalen Bewegung mit Präsenz in Chile und Peru. Der 10. November 2019 wurde zu einem historischen Tag im Kampf um das Recht auf Care. An diesem Tag organisierten Hunderte von Menschen in verschiedenen Städten dieser Länder Demos, um ihre politischen Stimmen zu erheben und die Sorgearbeit sichtbar zu machen sowie ihr Recht auf ein gutes Leben einzufordern. Seitdem sind wichtige Errungenschaften hinzugekommen: Im Fall Mexikos bildete sich im Dezember 2019 die Koalition für das Recht auf Sorge in Würde und auf eigene Zeit ( span.: „Coalición por el Derecho al Cuidado Digno y Tiempo Propio“), ein Bündnis von Care-Arbeitenden, Aktivist*innen, Feminist*innen, Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, um eine Reform der nationalen Verfassung anzustoßen. Am 18. November 2020 stimmte das Parlament einstimmig der Reformierung des vierten und 73. Artikels der Politischen Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten zu, um das Recht auf Care und eigene Zeit verfassungsrechtlich wirksam zu machen und die Schaffung eines
Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Jugend und Frauen haben 14 Verbände während der ersten Welle der Corona-Pandemie ein Bündnis gegründet, das sich zum Ziel gesetzt hat, „die Sorgelücke zwischen Frauen und Männern zu schließen“. Träger ist der Deutsche Frauenrat.
Zum 28. Mai 2021 – während der dritten Pandemie-Welle – gab das Bündnis eine Pressemeldung heraus unter dem Titel: „Corona-Krise: Wir brauchen einen Aufbruch zu mehr Geschlechtergerechtigkeit!“ Es wird der Internationale Aktionstag für Frauengesundheit, der 28. Mai, zum Anlass genommen, zu beklagen, dass die Pandemie die Gesundheit von Frauen besonders gefährdet bzw. angegriffen habe. Und als Grund dafür wird die Verschärfung der Zweifach- und Dreifachbelastung von Frauen durch die Corona-Krise gesehen.
Schon vor der Pandemie litten Frauen unter Zwei- und Dreifachbelastung. Denn Frauen müssen, wie es auch von Männern erwartet wird und bei diesen die Regel ist, zuallererst für ihren Lebensunterhalt und ihre finanzielle Absicherung im Alter eine Erwerbstätigkeit ausüben. Neben dieser existenziellen Notwendigkeit obliegt es den Frauen vielfach zusätzlich noch, den Haushalt zu führen, also eine zweite Arbeitsschicht zu bewältigen, und sich im Falle einer Mutterschaft um Kinder zu kümmern, was zu einer dritten Arbeitsschicht führt. Statt Kinder – manchmal auch noch zusätzlich zu Kindern – können es auch Kranke und Pflegebedürftige sein, die daheim gepflegt werden (müssen). Nur eine Minderheit der Frauen mit hohem Einkommen kann diese zweite und dritte Arbeitsschicht delegieren. Und zwar häufig an eine andere Frau, die meistens dann einen migrantischem Hintergrund hat.
Leben Frauen in einer Ehe oder Partnerschaft, wird die zweite und dritte Arbeitsschicht zwar zum Teil unter beiden Partner:innen aufgeteilt, aber immer noch selten zu gleichen Teilen. Männer sind generell öfter bereit, mehr Zeit in die Erwerbsarbeitsschicht zu stecken als Frauen. Wird Frauen die Zweifach- oder Dreifachbelastung zu schwer, entscheiden sie sich dann eher als Männer dafür, ihre erste Arbeitsschicht zugunsten der zweiten und dritten zu verringern oder gar ganz aufzugeben. Das führt zu finanziellen Einbußen, da nur die erste Arbeitsschicht, nämlich die Erwerbsarbeitsschicht, entlohnt wird. Die anderen beiden Tätigkeiten werden weitgehend als rein private Angelegenheit betrachtet.
Geld verdienen, um Miete und Brot zu bezahlen, müssen alle. Aber ist nicht jede:r frei, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, sich „Kinder anzuschaffen“ oder Angehörige zu pflegen?
Die Antwort ist: leider nein! Wenn nicht schon durch Brauch und Moral, so ist der Generationenvertrag klar in unserer Gesetzgebung verankert. Eltern – und zuallererst die Person, die ein Kind gebiert – tragen die volle Verantwortung für ihr Kind (Art. 6 GG, art. 27 UN Kinderrechtskonvention). Aber auch die Verantwortung von erwachsenen Kinder ihren alten Eltern gegenüber ist als Pflicht genau gesetzlich geregelt (§ 1601 ff BGB).
Es ist also nur eine logische Schlussfolgerung, dass Frauenrechtsorganisationen jetzt, wo die Gesundheit vieler Frauen wegen einer akuten Verschärfung der Zwei- bzw. Dreifachbelastung in unserer (neoliberalen) Gesellschaft gefährdet oder beeinträchtigt wurde, von der Politik fordern, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Frauen entlasten.
Die Forderungen, die nun das Bündnis „Sorgearbeit fair teilen“ am Internationalen Aktionstag Frauengesundheit stellt, sind jedoch schlicht enttäuschend. Was als Problem im Privatleben von Menschen diagnostiziert wird, soll privat von den Betroffenen und auf deren Kosten gelöst werden. Es sollen Männer einen „fairen Teil“ der (unbezahlten) zweiten und dritten Arbeitsschicht übernehmen, damit Frauen sich stressfreier der ersten Arbeitsschicht widmen können. Damit sie so „berufliche Entfaltung“ erfahren. Die Preisfrage, die sich stellt, ist: Wie soll die Politik Männer dazu bekommen, diese ihrer eigenen beruflichen Entfaltung im Weg stehenden Tätigkeiten zu übernehmen?
(Zwischenfrage: Warum nur gründen Menschen Familien und warum bekommen Menschen Kinder, wenn alles damit Verbundene belastet und anscheinend kein Terrain für persönliche Entfaltung bietet? Wenn es dagegen nur die berufliche Entfaltung behindert?)
Was sind also die konkreten Vorschläge des Bündnisses?
Erstens: Eine Steuerreform, nämlich die Abschaffung des Ehegattensplittings. Dadurch sollen verheiratete Frauen davon abgehalten werden, auf eine mögliche „berufliche Entfaltung“ in einer Erwerbstätigkeit zu verzichten, und sich legitim weigern können, Zeit in die anderen – als problematisch betrachteten – zwei Schichten zu stecken.
Allerdings: Für unverheiratete Frauen greift das Ehegattensplitting nicht. Und auch für Menschen und Haushalte, die aufgrund von Armut keine Einkommensteuern zahlen (Hartz IV-Empfänger:innen zum Beispiel) ist eine solche Reform irrelevant. Sie erhalten ja auch kein Kindergeld, kein Elterngeld und – sollte es denn mal eingeführt werden – vermutlich auch kein Pflegegeld. Diese Menschen werden, auch wenn sie unbezahlt gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten erbringen und sich etwa um Kinder oder Pflegebedürftige kümmern, als Sozialschmarotzer:innen betrachtet, die auf Kosten der Erwerbstätigen leben.
Zweitens: Es sollen Männer, ganz gleichgültig über welches Erwerbseinkommen sie verfügen, ihre Erwerbsarbeitszeit (und somit ihr Einkommen) verringern, damit sie mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit haben. Sollen also Männer genau das tun, wovon Frauen dringend abgeraten wird? Nämlich Teilzeit arbeiten, obwohl damit Altersarmut vorprogrammiert ist? Zumal Teilzeit eher in weniger gut vergüteten Berufen möglich ist.
Woher der Mann kommen soll, mit dem Alleinerziehende die unterschiedlichen Formen von Arbeit teilen sollen, bleibt ebenfalls ein Rätsel.
Beitrag in der Reihe Perspektiven vonMatthias Neumann. (Beitrag als PDF)
Dass die Caritas die Erstreckung des zwischen ver.di und der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) vereinbarten Tarifvertrages auf die gesamte Altenpflege abgelehnt hat, hat große Wellen geschlagen. Um die Bedeutung zu verstehen und sich hier positionieren zu können, sind Antworten auf ein paar Fragen zu finden: 1) Weshalb ist ein für die gesamte Branche geltender Tarifvertrag überhaupt erforderlich; weshalb wird die Lohnsicherung nicht einfach gewerkschaftlichen Kämpfen oder dem Marktmechanismus überlassen? 2) Weshalb wird dabei der ungewöhnliche Weg über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gewählt, um ein akzeptables Mindestniveau in der Altenpflege zu sichern? 3) Weshalb hat sich die Dienstgeberseite der Caritas zur Blockade entschlossen, und was ist von ihrer Aussage zu halten, sie wolle die guten Löhne der kirchlichen Träger schützen? 4) Und was ist jetzt zu tun?
1) Die Pflegeversicherung, über die die Finanzierung der Altenpflege abgewickelt wird, ist 1995 eingeführt worden, als neoliberale Politik im Aufwind war. Die gegenwärtige Pflegeversicherung soll Kosten durch Wettbewerb zwischen den Trägern senken und zugleich Profite ermöglichen. Deshalb ist sie im Unterschied zur Krankenversicherung nicht als Vollversicherung, sondern als gedeckelter Zuschuss geregelt. Der häufig verwendete Begriff der Teilkaskoversicherung ist nicht treffend: Während eine Teilkaskoversicherung einen Festbetrag der versicherten Person erfordert und die Versicherung die darüber hinaus entstehenden Kosten begleicht, ist es bei der Pflegeversicherung umgekehrt: Die Versicherung zahlt einen festen Zuschuss, mit dem großen Rest werden Familien und Kommunen alleine gelassen. Da die Zuschüsse nicht angemessen erhöht wurden, steigt die Eigenbeteiligung immer weiter. Dadurch führen höhere Löhne der Beschäftigten, die den Großteil der Betriebskosten eines Pflegeheims ausmachen, zu steigenden Pflegesätzen. Diese werden an die Kostenträger und insbesondere an die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen weitergegeben. Auch wenn Tariflöhne seit dem Pflegestärkungsgesetz I im Jahr 2015 in den Pflegesatzverhandlungen zwischen Heimbetreiber, Pflegekassen und Kommunen anerkannt werden müssen, übt diese Konstruktion der Pflegeversicherung Druck aus, die Löhne niedrig und die Personaldecke dünn zu halten: Die Kommunen möchten die Kosten begrenzen, die ihnen über die Zahlung von Hilfe zur Pflege entstehen, und auch die Kassen versuchen, ihre Ausgaben gering zu halten. Die Heimbetreiber wiederum konkurrieren um die Auslastung der Heimplätze. In dieser Konkurrenz sind angesichts des hohen und steigenden Eigenanteils für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen die Kosten ein zentrales Argument. Obwohl also Tariflöhne in den Pflegesatzverhandlungen anerkannt und finanziert werden müssen, gibt es für die beteiligten Seiten ein Interesse an niedrigen Löhnen in der Altenpflege.
Nun ließe sich annehmen, dass in der Altenpflege als einer Branche mit massivem Fachkräftemangel bereits der Arbeitsmarkt das Problem niedriger Löhne lösen würde. Die Entgelte in der Altenpflege steigen zwar tatsächlich sowohl für Fachkräfte als auch für Helfer*innen überdurchschnittlich, aber dieser Fortschritt ist angesichts der Lage der Beschäftigten viel zu langsam. Noch immer verdienen nach Daten der Arbeitsagentur Fachkräfte bei vergleichbarem Qualifikationsniveau 3% weniger als im Durchschnitt der Gesamtwirtschaft, Helfer*innen 8% weniger. Diese Differenz, die gar nicht so groß erscheint, gewinnt Dramatik angesichts der Tatsache, dass vor allem aufgrund der Arbeitsbelastung viel mehr Beschäftigte in Teilzeit arbeiten müssen als im Vergleich aller Branchen.
Dass diese Konstellation seitens der Gewerkschaft nicht genutzt wird, um schnellere Lohnsteigerungen durchzusetzen, hat mit der besonderen Konstellation in der Altenpflege zu tun. Diese erschwert es Beschäftigten sehr, den erforderlichen Druck aufzubauen: Im Unterschied zu Krankenhäusern, wo ein Streik durch die Beschränkung auf einen Notdienst die Einnahmen aus den Fallpauschalen verringert, fügt ein Streik im Pflegeheim dem Betreiber keinen direkten finanziellen Schaden zu. Denn die Pflegesätze werden während des Streiks weitergezahlt; die Einnahmen bleiben den Betreibern also erhalten. Die Situation ist in dieser Hinsicht mit der in Kitas vergleichbar. Allerdings kann eine Kita im Streik geschlossen und die Kinder in die Betreuung der Eltern übergeben werden. Das ist in einem Pflegeheim nicht möglich. Ein in der Branche arbeitender Freund sagte mir hierzu, dass in einem Streik, bei Notdienst, zudem das gestrichen würde, was den Bewohner*innen Freude macht. Das Verantwortungsbewusstsein der Beschäftigten gegenüber den Pflegebedürftigen beschränkt also ihre Handlungsfähigkeit im Arbeitskampf.
2) Der übliche Weg, einen allgemeinverbindlichen Tariflohn durchzusetzen, geht über das Tarifvertragsgesetz. § 5 TVG sieht allerdings nur dann einen gemeinsamen Antrag der Tarifparteien vor, einen Tarifvertrag als allgemeinverbindlich zu erklären, wenn dieser bereits für mindestens 50% der Beschäftigten gilt. Hiervon sind ver.di und BVAP weit entfernt. Da aber weder über den Arbeitsmarkt noch über den Pflegemindestlohn eine hinreichende Untergrenze der Löhne in der Altenpflege eingezogen wird, wurde im Arbeitnehmerentsendegesetz die Möglichkeit geschaffen, die Erstreckung eines Tarifvertrags über die gesamte Branche auch ohne die 50-Prozent-Hürde zu beantragen. Zusätzlich wurde den Arbeitsrechtlichen Kommissionen von Caritas und Diakonie jedoch ein Sonderrecht eingeräumt, indem ihre Zustimmung zu diesem Erstreckungsantrag erforderlich ist.
Wenn die Caritas erklärt, dass der Pflegemindestlohn eine hinreichende Untergrenze darstellen würde, sagen die Zahlen anderes: Der Tarifvertrag zwischen ver.di und BVAP liegt beim Mindestentgelt je nach Qualifikationsniveau 9%-10% über dem Pflegemindestlohn. Zumindest dieser Betrag, bei langjähriger Beschäftigung wesentlich mehr, entgeht Altenpfleger*innen, die gegenwärtig für den Pflegemindestlohn arbeiten.
3) Die Sonderrolle der kirchlichen Träger erklärt sich mit dem sogenannten Dritten Weg. Dieser konstruiert statt eines Lohnarbeitsverhältnisses mit Arbeitskampfrecht eine „Dienstgemeinschaft“, in der unter anderem das Streikrecht zumindest stark eingeschränkt ist. Eben diese Sonderregelung zu verteidigen, ist auch der einzig nachvollziehbare Grund für die Blockade eines allgemein erstreckten Tarifvertrags durch die „Dienstgeber“-Seite der Caritas. Eine entsprechende Aussage hat der Sprecher der „Dienstgeber“-Seite, Norbert Altmann, in einem Interview relativ versteckt gemacht: „Arbeitsrechtler warnen davor, dass der Dritte Weg dadurch grundsätzlich in Frage gestellt wird.“ Dieser Dritte Weg ist nun tatsächlich ein reines „Dienstgeber“-Interesse.
Das zu betonen ist wichtig, denn es hat eben nicht die Caritas und auch nicht ihre Arbeitsrechtliche Kommission als ganze diese Blockadehaltung eingenommen, sondern der Widerspruch gegen die Erstreckung des Tarifvertrags stammt von den „Dienstgebern“ in der Kommission, die durch deren paritätische Zusammensetzung ein faktisches Vetorecht besitzen. Die Mitarbeiter*innenseite der Kommission kritisierte wie auch viele katholische Sozialethiker*innen die getroffene Entscheidung massiv: Thomas Rühl, Sprecher der Mitarbeiterseite in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas, meinte: „Mit ihrer Verweigerungshaltung hat die Dienstgeberseite den Ruf und die Glaubwürdigkeit der Caritas massiv beschädigt.“ Selbst die Caritas als Gesamtorganisation sieht das Ergebnis ihrer Arbeitsrechtlichen Kommission kritisch: Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritas-Verbands, „erklärte am Freitag in Berlin, die Entscheidung der Arbeitsrechtlichen Kommission (AKR) „schadet der Glaubwürdigkeit der Caritas und sie kommt zu Unzeiten für die katholische Kirche““.
Denn die Caritas gehört wie die Diakonie nicht zu den Trägern, die besonders niedrige Löhne zahlen und insofern von einem über die gesamte Branche erstreckten Tarifvertrag negativ betroffen wären. Niedriglöhne zahlen insbesondere private, renditeorientierte Träger, aber auch andere wie das DRK. Es war also kein Zufall gewesen, dass gerade das Rote Kreuz sich nicht an der Tarifvereinigung BVAP beteiligte. Entsprechend sind es die beiden Vereinigungen privater Träger (AGVP und bpa), die neben der Evangelischen Heimstiftung die Verfassungsmäßigkeit eines für alle verbindlichen Tarifvertrags massiv bestreiten. Diesen Betreibern hat die Caritas also die Arbeit abgenommen und sich statt ihrer der wohlverdienten Kritik ausgesetzt.
Die „Dienstgeber“-Seite der Caritas führt als Argument für ihre Blockade an, dass sie keine höheren Löhne verhindern, sondern im Gegenteil ihr bestehendes Lohnniveau schützen wolle. Denn mit einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag sei die Anerkennung der besseren Arbeitsvertraglichen Richtlinien (AVR) der kirchlichen Träger gefährdet. Diese Aussage hat auch in progressiven Kreisen Verunsicherung gestiftet. Was ist von ihr zu halten?
Es heißt, dass ein auf die gesamte Pflegebranche erstreckter Tarif das kirchliche Lohnniveau gefährden könnte, indem in den Pflegesatzverhandlungen nur noch dieser Tarif anerkannt würde, nicht mehr jedoch bessere Regelungen in kirchlichen AVR oder im öffentlichen TV-Pflege. Das Gesetz, das hierfür Grundlage ist, gibt dies jedoch überhaupt nicht her. In § 84 Abs. 2 SGB XI heißt es nur: „Die Bezahlung von Gehältern bis zur Höhe tarifvertraglich vereinbarter Vergütungen sowie entsprechender Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen kann dabei nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden.“ Es gibt unterschiedliche Tarifverträge, und sie werden alle anerkannt. Das hier vorgebrachte Bedenken teilen auch weder ver.di noch die Arbeitnehmerseite in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas. Gerade letztere wären diejenigen, die von einer Verschlechterung direkt betroffen wären. Sie haben jedoch für eine allgemeine Erstreckung plädiert. Dieses Argument erscheint also vorgeschoben.
Zur Verteidigung des Arguments, die Löhne nach kirchlichen AVR seien gefährdet, wird, auch vom durchaus progressiven Theologen und Sozialwissenschaftler Franz Segbers, der genau wie ver.di oder Care Revolution die neoliberale Konstruktion der Pflegeversicherung kritisiert, ein Rechtsgutachten angeführt, das die Bedenken der „Dienstgeber“ stärke. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieses Gutachten jedoch als eine Luftnummer: Das Rechtsgutachten hat einen anderen Gegenstand; auf die hier relevante Frage wird auf den 70 Seiten in drei Sätzen eingegangen, spekulativ und ohne Diskussion von Rechtsnormen oder Präzedenzfällen. Zwar wird auf Seite 68 tatsächlich festgestellt: „Pflegekassen könnten einer Einrichtung, die mehr bezahlen möchte, entgegenhalten, dass eine Vergütung oberhalb des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages nicht mehr angemessen sei.“ Konkreter wird es jedoch nicht.
Ein juristisches Argument wird im Gutachten also nicht beigebracht. Im oben erwähnten Schreiben katholischer Sozialethiker*innen heißt es im Widerspruch zu diesem, dass durch eine Rechtsverordnung, die den Tarifabschluss zwischen ver.di und BVAP allgemeinverbindlich macht, „geltende Tarifverträge und … auch das Tarifwerk der Caritas nicht außer Kraft gesetzt (werden) – sofern die neuen Mindestbedingungen erfüllt werden.“ (S.5) Auch politisch ist naheliegend, dass in einer Situation akuten Fachkräftemangels in der Altenpflege eine Bezahlung nach besseren Regelungen jederzeit legitimierbar und vor allem durchsetzbar wäre. Umgekehrt würde der Versuch einer Absenkung des Tarifniveaus im Rahmen der Pflegesatzverhandlungen massive gesellschaftliche und betriebliche Proteste auslösen, die niemand riskieren würde. Es scheint also in jeder Hinsicht schlüssig, dass ver.di und die Beschäftigtenseiten bei Caritas und Diakonie in einem allgemein erstreckten Tarifvertrag kein Risiko sehen.
4) In seinem oben verlinkten Artikel erklärt Segbers, dass es darum ginge, gegen „das politisch gewollte Sozialdumping“ vorzugehen, das im Kern der Konstruktion der Pflegeversicherung steht. Hier ist ihm rückhaltlos zuzustimmen. Allerdings wird der Protest gerade von denjenigen getragen, die jetzt einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag einfordern. Von den kirchlichen Trägern dagegen ist ein solcher Protest stets nur punktuell, von einigen engagierten Angestellten und Gliederungen, zu hören gewesen. Tatsächlich ist es nötig, um eine solidarisch finanzierte Vollversicherung in der Pflege zu kämpfen. Angesichts der eingangs erwähnten Schwierigkeit, in betrieblichen Arbeitskämpfen Druck aufzubauen, ist hierfür gerade in der Altenpflege das Zusammenwirken von pflegenden Angehörigen, Beschäftigten sowie allen wichtig, die der Umgang mit Hilfebedürftigen und denen, die sich um sie kümmern, empört.
Bis wir hier weitergekommen sind, ist aber alles zu unternehmen, was die Situation der Beschäftigten in der Altenpflege verbessert. Dazu gehört ein über die Branche erstreckter Tarifvertrag. Diesem steht das „Nein“ der Caritas-Dienstgeber entgegen, die damit ihren undemokratischen kirchlichen Sonderweg verteidigen, auf Kosten von Beschäftigten in privaten Heimen, aber auch in vielen Einrichtungen von „freigemeinnützigen“ Trägern, denen dringend benötigte Lohnerhöhungen verweigert werden. Mit massiven und ausdauernden Protesten die Caritas-„Dienstgeber“ – und die der Diakonie, die sich gegenwärtig hinter der Caritas-Entscheidung verstecken können – zu einem Einlenken zu drängen, gehört sicherlich zu den erfolgversprechendsten Wegen, Verbesserungen zu erreichen.
Beitrag in der Reihe Perspektiven von Sven Drebes (Berlin), Alexandra Gerber (Leipzig) und Ann Wiesental (Berlin).
Mit freundlicher Genehmigung von CONTRASTE Zeitung für Selbstorganisation
In unserer Utopie leben im Jahr 2048 alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit in Kiezen oder Dörfern zusammen, solidarisch, im Austausch, barrierefrei. Dieser Artikel befasst sich mit den Fragen, wie solche Strukturen gestaltet sein müssen, damit wirklich alle Menschen daran teilhaben können. Er basiert auf einem Workshop, den wir beim Kongress »Zukunft für Alle« des Konzeptwerks Neue Ökonomie 2020 durchgeführt haben, er geht jedoch teilweise darüber hinaus.
Bei vielen Überlegungen steht die Analyse und Kritik der Verhältnisse am Anfang und zur Utopie kommt es oft gar nicht. Wir haben uns deswegen sehr über den Kongress gefreut, bei dem es um die Utopie ging. Ein Kriterium, an dem sich unsere Utopie messen lassen muss, ist, dass bei Entscheidungen, Entwicklungen und Priorisierungen der tatsächliche Bedarf der Menschen im Zentrum steht und nicht das Ziel, möglichst schnell und viel Profit zu erzielen. Care-Bedarfe dürfen nicht weiter wie der Bedarf nach Waren organisiert werden und die damit zusammenhängenden Arbeiten und Beziehungen somit nicht warenförmig. Außerdem sollten die Bedarfe sowie die Notwendigkeit guter Bedingungen von den drei Positionen aus gedacht werden. Das bedeutet, dass Care-Nehmer*innen sowie unbezahlte und bezahlte Care-Arbeiter*innen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden sollen.
In den 2010er Jahren kam der technokratisch klingende Begriff »inklusive Sozialräume« auf, der diese utopischen Strukturen gut beschreibt. Daran erinnern sich im Jahr 2048 allerdings nur noch wenige, weil die inklusive Gestaltung so selbstverständlich geworden ist, dass nicht mehr darauf hingewiesen werden muss. Einige Menschen brauchen weiterhin in mehr oder weniger großem Umfang persönliche Assistenz oder spezialisierte Unterstützungsstrukturen. Care-Bedarfe wie Kinderbetreuung, Beziehungsarbeit, Kochen und Hausarbeit werden in unterschiedlichen Formen, zu großen Teilen selbstverwaltet und gemeinschaftlich organisiert.
Weniger Erwerbsarbeit
Eine wesentliche Veränderung hat 2048 in der Zeitpolitik stattgefunden. Ein Orientierungspunkt ist nunmehr die »Vier-in-Einem«-Perspektive von Frigga Haug. Den Menschen steht danach ähnlich viel Zeit zur Verfügung für vier verschiedene Arten von Tätigkeiten: produktive, reproduktive und politische Arbeit sowie Arbeit im Bereich Kreativität, Muße und Freizeit. Dazu musste der Anteil der Erwerbsarbeit deutlich abnehmen. Die Menschen müssen nicht mehr als 20 Stunden die Woche einer Erwerbsarbeit nachgehen. Damit verbunden ist, dass alle Tätigkeiten des Lebens wertgeschätzt und anerkannt werden und sie befreit sind vom Druck zur Effizienz. Somit stehen die Beziehungen stärker im Zentrum.
Gemeinschaft und Kollektivität haben einen hohen Stellenwert, doch es gibt keinen Zwang. Da wo es den Wunsch nach gemeinschaftlichem, kollektivem Leben gibt, wird es gefördert und unterstützt, Care-Arbeit versteht sich als Angebot. Die dafür notwendigen sozialen Netzwerke sind zusehends wichtiger in unserem täglichen Umgang geworden und prägen unser Dasein nachhaltig, wir tragen uns alle miteinander gemeinsam. Sie sind entstanden, weil wir Solidarität und Soziales leben und stärken, anstatt ökonomisches Kapital zu akkumulieren. Beziehungen sind offener und vielfältiger und bekommen eine mindestens genauso hohe Bedeutung zugemessen wie einst Kleinfamilien. Wir fokussieren uns nicht mehr auf cis-heterosexuelle monogame Beziehungen, wie Kleinfamilien, an denen sich bisher alle anderen Formen der Beziehungen und somit der sozialen Strukturen rund um Care-Arbeit ausgerichtet hatten, sondern erweitern diese zum Beispiel dadurch, dass Menschen, die ein hohes Maß an Ressourcen aufweisen, diese mit anderen, auch außerhalb ihrer Nahbeziehungen teilen können, wenn sie möchten. Durch das Aufbrechen der Heteronormativität wird Care-Arbeit nicht mehr zu einem großen Anteil von weiblich sozialisierten Personen abgedeckt, vielmehr beteiligen sich auch Personen, die sich mit anderen Geschlechtern identifizieren, an Care-Arbeiten, egal in welcher Form.
Grenzen werden geöffnet
Da Care-Tätigkeiten kollektiv und solidarisch außerhalb der Kernfamilien umgesetzt werden, müssen diese nicht mehr von schlecht bezahlten Migrant*innen aus Osteuropa und dem globalen Süden erledigt werden. Ihre Qualifikationen und Bildungsabschlüsse werden anerkannt, so dass sie in ihren erlernten Berufen arbeiten können und nicht mehr die Versorgungslücken füllen müssen. Voraussetzung dafür ist, dass die Grenzen weltweit für Menschen geöffnet werden.
Um die Ausbeutung von sozialen und ökologischen Ressourcen einzudämmen, werden diese nicht mehr primär zur Kapitalakkumulation eingesetzt und stärker reguliert. Das Eigentum an Produktionsmitteln hat abgenommen, immer mehr Bereiche sind vergesellschaftet, in gemeinschaftlichem oder Genossenschaftsbesitz. Die Organisationsstrukturen sind dort flacher und basisdemokratischer. Durch die teilweise Vergesellschaftung von Eigentum haben die Bedeutung und Wertschätzung von Geld abgenommen. Menschen können auch ohne Geld partizipieren, denn das Ein- und Auskommen ist nicht mehr von der Erwerbsarbeit abhängig. Auch die Ressourcen und benötigte Infrastrukturen, um die Bedarfe nach bezahlter Care-Arbeit zu decken, werden solidarisch von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Alle sind ausreichend – zum Beispiel über ein bedingungsloses, globales Grundeinkommen – versorgt, niemand muss mehr hungern oder ohne Obdach sein.
Vielfalt ist ein Wert an sich
2048 hat sich viel verändert, doch es war nicht immer ganz einfach, die vorherigen Strukturen so umzugestalten, dass sie für alle barrierefrei zugänglich sind. Barrierefrei ist, was für Menschen auf die allgemein übliche Weise und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar ist, wobei die Betonung auf »grundsätzlich« liegt. Das Konzept Barrierefreiheit wurde früher meistens als ein behindertenpolitisches verwendet, es ließ sich aber problemlos auf andere Ausschlüsse übertragen. Dort, wo Barrierefreiheit noch nicht hergestellt ist, bestimmte Barrieren aus technischen Gründen nicht beseitigt werden konnten oder bestimmte behinderte Menschen grundsätzlich barrierefreie Angebote nicht nutzen können, haben so genannte »angemessene Vorkehrungen« den Zugang ermöglicht. Das sind individuell an die Bedarfe der Menschen und die Situation angepasste Maßnahmen.
Barrierefreiheit ist eine wesentliche Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft nimmt alle in ihrer gesamten Vielfalt wahr und akzeptiert diese Vielfalt als Wert an sich. Dazu gehört die Erkenntnis, dass jede Person bestimmte Stärken hat, die sie unter bestimmten Bedingungen entfalten kann. Einige benötigen dazu – aus welchen Gründen auch immer – Bedingungen, die deutlich von denen der anderen abweichen, weswegen die Gesellschaft zur Schaffung solcher Bedingungen beitragen muss. Das Vorhandensein von Behinderungen bzw. körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen ist dabei nur ein Anlass von vielen. Die damalige Diskussion über Inklusion im deutschsprachigen Mainstream griff daher deutlich zu kurz. Bei der inklusiven Gestaltung der Gesellschaft allgemein oder von bestimmten Strukturen ist unter anderem zu beachten, dass Menschen nicht behindert sind, weil sie bestimmte Tätigkeiten nicht ausführen können. Menschen werden vielmehr behindert, weil die Gesellschaft bestimmte Anforderungen an sie stellt, die sie auf Grund ihrer physischen, psychischen oder kognitiven Eigenschaften nicht erfüllen können. Dabei sind diese Eigenschaften nur bei einer Minderheit der Menschen von Anderen wahrnehmbar.
Barrieren für Beteiligung abbauen
2048 werden alle Arbeiten, produktive und reproduktive, in der Gesellschaft als gleichberechtigt wertvoll wahrgenommen und geschätzt. Die basisdemokratische Organisation in den Kiezen und Dörfern erfolgt überwiegend in inklusiv gestalteten Räten. Dort kommen Menschen in kleinen und größeren Einheiten zusammen, und alle Bedarfe nach Angeboten und Infrastrukturen werden gehört. So kann in erster Linie für diese sensibilisiert werden, um sie zu koordinieren und die zu ihrer Deckung notwendigen Arbeiten und Maßnahmen zu organisieren. Dabei gibt es zum Beispiel Beauftragte, deren Fokus die Diversität ist. Machtverhältnisse und strukturelle Benachteiligungen werden abgebaut, wodurch sichergestellt wird, dass alle, die das möchten, sich aktiv einbringen können
Letzteres stellt insbesondere selbstorganisierte Strukturen vor Herausforderungen, da das Konzept Selbstorganisation relativ hohe Anforderungen an die Beteiligten stellt. Früher wurde dies besonders von Gruppen praktiziert, in denen sich Menschen zusammenfanden, die in Bezug auf Bildung, (soziale) Herkunft und politische Einstellungen relativ homogen waren. Um Organisationsstrukturen inklusiver zu gestalten, wurden deswegen die Erwartungen an »Neue« überprüft sowie eine Vielfalt an Möglichkeiten zur Beteiligung und eine transparente Kommunikation geschaffen, die proaktiv darstellt, welche Barrieren man bereits vermieden bzw. (schon) abgebaut hat und welche »angemessenen Vorkehrungen« weiter organisiert werden können. Benachteiligte Menschen fühlen sich so von vorneherein angesprochen.
Ansätze für diese Veränderungen waren 2020 schon erkennbar. Gerade durch die Corona-Krise ist uns allen umso mehr bewusst geworden, wie wichtig soziale Beziehungen sind und dass ein solidarisches Miteinander in den meisten von uns verankert ist. Auch die prekäre Situation in den Institutionen zur Betreuung bzw. Unterbringung obdachloser, behinderter, pflegebedürftiger und geflüchteter Menschen wurde durch die Pandemie wie in einem Brennglas deutlich. Als Reaktion darauf wuchs das Interesse an alternativen Care-Strukturen, die bereits im Kleinen existierten, deutlich. So haben sich von unten Strukturen entwickelt, in denen Zeit und materielle Güter geteilt wurden.
Lasst uns daran festhalten und sie groß machen, so dass der Begriff von Inklusion hinfällig wird, weil alles inklusiv ist. In unserer Utopie 2048 hat sich das realisiert, und das Leben und Miteinander ist von Solidarität und Teilhabe geprägt. Wir freuen uns auf diese Zukunft!
Die Autor*innen kennen sich über Aktivitäten des Care Revolution Netzwerks. Sie arbeiten zu unterschiedlichen Bereichen wie Ökonomie, Care, Behindertenpolitik und Feminismus.weiterlesen
In unserer Podcast-Reihe #CAREelevant kommen Menschen zu Wort, die bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit leisten oder auf diese Arbeit angewiesen sind. Sie berichten, wie sich ihre Arbeit und ihr Alltag in der Corona-Pandemie verändert haben und welche gesellschaftlichen Wege aus und nach der Krise sie sich wünschen.weiterlesen
Beitrag in der Reihe Perspektiven von Matthias Neumann (aktiv bei Care Revolution Freiburg und im Netzwerk Solidarisches Gesundheitswesen Freiburg.) (Beitrag als PDF)
Anmerkung der Redaktion des Perspektiven-Blogs der Care Revolution-Webseite: Wir freuen uns sehr über weitere Einschätzungen der Lage, kollektives Nachdenken und gemeinsames Schärfen der Analyse. Daher laden wir Euch herzlich dazu ein, die Anregung zur Diskussion in diesem Text aufzugreifen und Debattenbeiträge für den Blog zu verfassen (Hinweise).
Es ist – zu Recht und glücklicherweise – in den letzten Tagen und Wochen oft betont worden, dass das Gesundheitssystem dieses Landes schon vor der Corona-Krise an der Grenze seiner Funktionsfähigkeit operierte. Noch erhält der Einsatz der Beschäftigten es aufrecht, aber auch diese erkranken, die Erschöpfung nimmt zu, und die materiellen Kapazitäten lassen sich, nachdem sie an einen so tiefen Punkt hinuntergefahren worden sind, nicht beliebig schnell aufstocken. In Ländern wie Italien oder Spanien ist die Grenze der Funktionsfähigkeit offensichtlich bereits überschritten und auch in Deutschland droht eine Überlastung des Gesundheitssystems mit dramatischen Folgen.
Fatale Gesundheitspolitik
Ich möchte hier nicht erneut die Mängel in den deutschen Krankenhäusern umfassend darstellen, jedoch sei an Hand von wenigen Fakten demonstriert, wie die Politik, die jetzt angesichts des Corona-Virus mit dem Krisenmanagement betraut ist, diese Mängel erzeugt hat:
Während die Zahl des nichtärztlichen Krankenhauspersonals von 1991 bis 2017, auf Vollzeitstellen umgerechnet, um 4.1% sank, nahm die Zahl der behandelten Fälle in diesem Zeitraum um 33.4% zu (Destatis 2018: Grunddaten der Krankenhäuser 2017. S. 11/12. Eigene Berechnung). Diese Patient_innen verblieben deutlich kürzer im Krankenhaus, so dass zwar die Zahl der belegten Betten sank, aber die Betreuungsintensität durch den hohen Anteil frisch operierter Patient_innen stieg. (Dass das deutsche Gesundheitssystem hier schlecht aufgestellt ist, zeigt auch der OECD-Vergleich der Pflegekräfte je Belegungstag, der die Liegezeit berücksichtigt. Hier liegt Deutschland auf dem letzten Platz. Bertelsmann Stiftung 2017: Pflegepersonal im Krankenhaus; S. 3.) Die Zahl der Betten je Einwohner_in sank in diesem Zeitraum um 28% (Destatis 2018: Grunddaten der Krankenhäuser 2017. S. 11. Eigene Berechnung). Auch die Zahl der Krankenhäuser ist in diesem Zeitraum durchweg rückläufig. Für eine weitere deutliche Verringerung der Zahl der Krankenhäuser um mehr als die Hälfte und auch der Betten hat sich erst vor Kurzem
eine Studie des IGES-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftungweiterlesen
Jenny Künkel und Kathrin Schrader haben ein Buch über Feministische Perspektiven auf Sexarbeit herausgegeben. Verschiedene Beiträge klären über die politische, rechtliche und gesellschaftliche Lage von Sexarbeiter*innen auf. Außerdem berichten Sexarbeiter*innen, wie sie sich politisch für ihre Rechte und die Anerkennung als Care-Arbeiter*innen einsetzen. Ein Beitrag von Stephanie Klee trägt den Titel „Care-Revolution & Prostitution“. Mit ihr und den Herausgeberinnen sprach Jette Hausotter (Care Revolution Berlin) über Sexarbeit, Care-Arbeit und Feminismus – auch angesichts der Corona-Krise.weiterlesen
WibkeDerboven hat ein Buch über „Elternschaft als Arbeit“ geschrieben. Anna (Care Revolution Hamburg) und Jette (Care Revolution Berlin) haben mit ihr darüber gesprochen.
Frage: Wir möchten mit dir über dein Buch „Elternschaft als Arbeit“ sprechen. Vielleicht kannst Du uns zu Beginn einmal erzählen, wie Du persönlich darauf gekommen bist zu Elternschaft zu forschen? Und was du überhaupt unter Elternschaft verstehst? Denn sicherlich denken viele bei Elternschaft zunächst nur an biologische Mütter und Väter, dabei gibt es ganz verschiedene Arten von Elternschaft. Wen meinst Du, wenn du von Eltern sprichst?
W.D.: Seit ich eigene Kinder habe, vermisse ich von der Gesellschaft den angemessenen Grad an Aufmerksamkeit und Würdigung für die Leistungen von Eltern. Dann hatte ich die Möglichkeit in meiner damaligen Arbeitsgruppe „Arbeit – Gender – Technik“ an der Universität einen Raum zu finden, in dem ich mein Alltagsverständnis um eine wissenschaftliche Perspektive erweitern konnte. Dafür bin ich sehr dankbar.
Und unter Eltern verstehe ich Menschen, die privat, also nicht erwerbsmäßig, Kinder oder Jugendliche bzw. ganz generell Menschen einer jüngeren Generation versorgen. Der Grad der biologischen Verwandtschaft spielt dabei keine Rolle, zentral ist das verantwortungsvolle Kümmern um Personen einer jüngeren Generation.
Frage: Nachdem wir also über Elternschaft gesprochen haben, bleibt der zweite große Baustein deiner Forschung: Elternschaft als (unbezahlte) Arbeit. Warum sprichst du von Elternschaft als Arbeit und was macht diese Art von unbezahlter Care-Arbeit insbesondere aus?
W.D.: Schon sehr lange trage ich ein Alltagsverständnis in mir, welches erstens die Versorgung von Kindern als Arbeit deutet und zweitens die derzeitige Konzentration auf Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft – wenn es um Leistung, Anerkennung, aber auch Gestaltung der Rahmenbedingungen geht – als unangemessen und ungerecht empfindet. Ebenso ist es eine traditionsreiche feministische Perspektive, die sich letztendlich auch gesellschaftlich durchgesetzt hat, unbezahlte Haus- und Sorgetätigkeiten als Arbeit zu bezeichnen. Mit dieser Studie möchte ich diese Perspektive analytisch konsequent umsetzen und die Tätigkeiten von Eltern mit zentralen Dimensionen von Arbeit, wie sie die Arbeitssoziologie beschreibt, anschauen.
Zur Frage, was diese Arbeit ausmacht, möchte ich mit einer Passage aus dem Buch antworten: „Familiale Care-Arbeit für Kinder ist eine auf Einflussnahme zielende, interaktive und arbeitsteilig-kooperative Arbeit, die selbstorganisiert sowie unentlohnt realisiert wird. Die Vorbereitung der Kinder in einer und auf eine meritokratische/n Gesellschaft bestimmt das familiale Care-Handeln für Kinder. Damit sind hohe Anforderungen verbunden, deren Bewältigung ein hohes Maß an persönlicher Stabilität, insbesondere mentaler Kraft und subjektiv empfundener Vorbildlichkeit braucht.“ (S.145)
Frage: Wir leben in einer Gesellschaft die geprägt ist von sozialer Ungleichheit. Dementsprechend sind auch die Bedingungen, unter denen Menschen Elternschaft leben, sehr unterschiedlich. Wie Menschen Elternschaft gestalten können, hängt beispielsweise vom Einkommen und sozialen Status ab. Rassismus und Sexismus prägen Annahmen und Stereotype über Eltern. Menschen mit bestimmten Behinderungen müssen sich gegen Widerstände durchsetzen, um überhaupt Eltern zu werden etc. Welche sozialen Ungleichheiten sind Dir in Deiner Forschung begegnet und wie haben sie sich geäußert? Und gibt es auch Probleme, mit denen alle Eltern gleichermaßen konfrontiert sind?
W.D.: Soziale Ungleichheiten werden in dieser Studie insbesondere dadurch berücksichtigt, dass Eltern mit unterschiedlichen sozio-ökonomischen Lebensbedingungen befragt wurden (orientiert an den Reproduktionsmodellen nach Winker 2015). Die Ergebnisse zeigen, dass Eltern sehr unterschiedliche Arbeitsweisen realisieren, die stark mit den jeweiligen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen und dem jeweiligen Aufmerksamkeitsbedarf des Kindes zusammenhängen. Daraus ergeben sich auch verschiedene Problemlagen, wobei aber alle Eltern in irgendeiner Form einen Mangel erleben: je nach den Rahmenbedingungen leiden sie unter dem Mangel an Zeit, Geld oder mentaler Kraft. Aber auch ein Migrationshintergrund kann zu spezifischen Problemlagen führen. So ist es für Eltern mit einem sichtbaren Migrationshintergrund ganz besonders belastend, öffentlich in Situationen zu kommen, in denen eine unauffällige Selbstpräsentation nicht mehr möglich ist, weil beispielsweise auf ein trotziges Kind eingewirkt werden muss. Sie befürchten und erleben in derartigen Situationen Stigmatisierungen.
Frage: Hast Du auch mit Eltern über dein Buch gesprochen? Wie finden sie es, Elternschaft als Arbeit zu betrachten?
W.D.: Grob gesagt gibt es zwei Pole an Reaktionen. Viele Eltern haben sehr bewegt gesagt: „Endlich sagt einmal jemand, dass es Arbeit ist.“ Ebenso viele Eltern sind aber auch sehr skeptisch gegenüber dem Arbeitsbegriff und haben gesagt: „Ich weigere mich innerlich, mein Tun für meine Kinder als Arbeit zu benennen. Das würde mich nur zusätzlich belasten.“ Einen Ausweg aus diesem Dilemma habe ich gesucht, in dem ich zwischen einem objektivierten und einem gefühlten Arbeitsverständnis unterscheide. So wird gewürdigt, dass es einerseits gesellschaftlich notwendig ist, vieles was Eltern tun als Arbeit zu bezeichnen, dass es aber andererseits genauso notwendig ist, Eltern für ihr subjektives Erleben eine ergänzende Begrifflichkeit an die Seite zu stellen.
Frage: Was mögen Eltern an dieser Arbeit und wo erleben sie Probleme? Welche Rahmenbedingungen, welche Unterstützung und welche Veränderungen wünschen und brauchen Eltern nach Deinen Erkenntnissen, um Elternschaft leisten zu können?
W.D.: Ganz dringend brauchen Eltern Zeit, mentale Kraft, Geld, ko-erziehende Kooperationspartner*innen und ein hohes Maß an persönlicher Stabilität. Auch an dieser Stelle möchte ich mit einem Zitat aus dem Buch antworten: „Insbesondere wegen der hohen Bedeutung der persönlichen Stabilität ist familiale Care-Arbeit für Kinder eine Arbeit der besonderen Art, die besondere gesellschaftliche Aufmerksamkeit, gute gesellschaftliche Rahmenbedingungen und angemessene gesellschaftliche Anerkennung braucht und verdient. Denn persönliche Stabilität ist nicht voraussetzungslos, sondern erfordert ein gutes, an der Gesellschaft teilhabendes Leben und ein wertschätzendes gesellschaftliches Umfeld. (S. 148/9)
Frage: Das Ziel von Care Revolution ist – ganz allgemein gesprochen – eine Gesellschaft, in der Sorgearbeit im Zentrum steht. Die Schritte dahin wollen wir solidarisch mit bezahlt und unbezahlt Care-Arbeitenden sowie Care-Empfänger*innen entwickeln. Siehst Du beim Thema Elternschaft Ansatzpunkte für solche Solidaritäten?
W.D.: In einer leistungsorientierten Gesellschaft ist die Gefahr der Konkurrenz unter Eltern erheblich. Das Wissen, dass nicht alle Menschen einen Platz in der Gesellschaft bekommen, der ein gutes Leben ermöglicht, belastet Eltern sehr und verhindert sicherlich auch ein Auftreten aller Eltern als Solidargemeinschaft. Merkle u.a. (2008) sprechen beispielsweise davon, dass Eltern eine „neue Art von Klassengesellschaft“ befördern, indem sie sehr unterschiedliche Versorgungs- und Erziehungspraktiken realisieren. Momentan ist es sehr verbreitet, sich gegenseitig Versäumnisse vorzuhalten: Schule gegen Eltern und umgekehrt, Eltern gegen Eltern etc. Der hohe Sorgendruck produziert ein ungünstiges Klima der Schuldzuweisung, der Konkurrenz, des Vergleichs und der Überforderung. Ansatzpunkte für Solidarität sehe ich aber dennoch. Der wichtigste Schritt ist zunächst, die Versorgung von Kindern als schwere Arbeit anzuerkennen, die Anforderungen zu benennen, und alle daran Beteiligten zu unterstützen. Um gelassen und kraftvoll Kinder zu versorgen, brauchen Eltern und alle anderen daran beteiligten Personen und Institutionen eine solidarische Gesellschaft, die in ihren Rahmenbedingungen die Angewiesenheit von Menschen auf Menschen stärker berücksichtigt als dies derzeit geschieht.
Vielen Dank für das Interview!
Besprochenes Buch:
Derboven, Wibke 2019: Elternschaft als Arbeit. Familiales Care-Handeln für Kinder. Eine arbeitssoziologische Analyse. Transcript
Weitere angesprochene Literatur:
Merkle, Tanja; Wippermann, Carsten; Henry-Huthmacher, Christine; Borchard, Michael (2008): Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten. Stuttgart: Lucius & Lucius.
Winker, Gabriele (2015): Prekarisierungsprozesse in der sozialen Reproduktionskrise, in: Völker, Susanne/Amacker, Michèle (Hg.): Prekarisierungen. Arbeit, Sorge und Politik, Weinheim, Basel, 75–92.
Sorge und Solidarität sind zwei fundamentale Formen, in denen sich Menschen aufeinander beziehen. In diesem Text möchten wir ihrem Zusammenhang nachgehen. Am Anfang stehen ein paar notwendige Begriffsklärungen. Wir versuchen, die Relevanz von Sorge und Sorgebeziehungen als auch politischer Ausgangspunkt zu beschreiben (1) und ihre Verschränkung mit dem Konzept der Solidarität zu entwickeln (2). Jedoch sind Sorge und Solidarität nicht nur konzeptionell, sondern auch politisch verbunden: Angesichts der Auswirkungen neoliberaler Politik und der mit dieser verbundenen Verschiebung der Kräfteverhältnisse ist eine Care-Politik, die tatsächlich etwas verändern will, auf solidarisches Handeln angewiesen (3). In der Folge beschreiben wir die Grundzüge einer „verbindenden Care-Politik“, in der Menschen in verschiedenen Positionen innerhalb von Sorgebeziehungen gemeinsam handeln (4). Dabei ist unter kapitalistischen Bedingungen ein gemeinsames Handeln, das die Interessen aller Beteiligten fördert, auf eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für Menschen in Sorgebeziehungen angewiesen (5). Abschließend plädieren wir für eine Gesellschaft, die in ihren strukturellen Grundzügen sorgendes und solidarisches Handeln unterstützt (6).
Beitrag in der Reihen Perspektiven von Jana Vasil’eva
Allianzen feministischer Netzwerke setzen derzeit erfolgreich das Recht der Menschen auf Care auf die öffentliche Agenda einiger Länder der lateinamerikanischen Region. Dies geschieht aus der Überzeugung heraus, dass die Sorge einen Grundbaustein der sozialen Gerechtigkeit und der menschlichen Entwicklung darstellt. Care als menschliches Grundrecht zu konstituieren, ist ein unabdingbarer Schritt, um den tiefen Ungleichheiten entgegenzuwirken, welche weite Teile Lateinamerikas derzeit in einer Spirale der kollektiven Erschöpfung, Frustration und Gewalt bannen. Diese Ungleichheiten schaffen Raum für reaktionäre und repressive politische Kräfte, führen jedoch auch zu Organisierungsprozessen und Forderungen von Care-Arbeitenden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, feministischen Kollektiven, Netzwerken und Forschenden.weiterlesen
Vom 30.9. bis 4.10.2018 fand in Belgrad ein internationales Austausch- und Vernetzungstreffen für Feminist*innen und LGBTIQ in linken sozialen Bewegungen statt. Es nahmen etwa 90 Menschen aus vielen Ländern Ost-, Süd- und Westeuropas sowie aus Russland, USA und einigen lateinamerikanischen Ländern teil. Eingeladen hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die auch Kooperationspartnerin des Care Revolution Netzwerkes ist. Aktive unseres Netzwerkes waren in verschiedenen Workshops vertreten.
Hintergrund und Ziel des Treffens
Die Organisator*innen verwiesen in ihrer Einladung auf das derzeitige Erstarken von rechten Regierungen und rechtspopulistischen Politiken, die sich selbst als Antwort auf die Zumutungen des Neoliberalismus darstellen und dabei rassistische, sexistische und klassistische Spaltungen in der Gesellschaft vorantreiben. Gleichzeitig gebe es derzeit vielfältige Gegenbewegungen und gerade gegen die Angriffe auf Frauen*- und LGBTIQ-Rechte gibt es weltweit immer öfter sehr große und erfolgreiche feministische Mobilisierungen. Vor diesem Hintergrund sollte das Treffen auf verschiedenen Feldern stattfindende feministische Kämpfe um Care-Arbeit, Ökonomie, Ökologie und Körperpolitiken zusammenbringen. Das Ziel: voneinander lernen, um Feminismus und LGBTIQ-Themen in den diversen linken Bewegungen und politischen Handlungsfeldern zu stärken, in denen die Teilnehmenden aktiv sind. Das sehr große und sehr intensive Treffen bot außerdem eine tolle Gelegenheit, um transnationale Netzwerke und Praxen zu entwickeln, insbesondere zwischen Ost und West.
Feministische Klassenpolitik als vielfältige Emanzipationsbewegung: eine Antwort auf die Krise sozialer Reproduktion
Wir erleben in der EU und den EU-Beitrittsländern derzeit eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf Einsparungen in allen sozialen Bereichen setzt und die besonders zu Lasten von Frauen und von ausgegrenzten oder marginalisierten Gruppen geht. Auf der Tagung haben verschiedene Autor*innen ihre sehr empfehlenswerten Länderstudien zu den Auswirkungen dieser Austeritätspolitik auf Frauen vorgestellt. Feministische Klassenpolitik wurde auf der Tagung als eine explizite Gegenbewegung zu dieser Austeritätspolitik eingeführt. Barbara Fried vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Aktive im Care Revolution Netzwerk, betonte in diesem Zusammenhang, dass eine feministische Klassenpolitik danach strebt, die Krise sozialer Reproduktion zu überwinden und alle Herrschaftsverhältnisse aufzuheben. Auf der Tagung wurde dieser „intersektionale“ Ansatz gleich praktisch umgesetzt, indem ein sehr vielfältiges Spektrum an Erfahrungen, Lebensrealitäten und Kämpfen vertreten war. Von regional und gesellschaftlich ganz verschiedenen linken (queer-)feministischen Standpunkten ausgehend – dabei aber ganz überwiegend mit praktischem, aktivistischem Hintergrund – wurden rechtliche und soziale Fragen und verschiedene Herrschaftsverhältnisse analysiert. Jeder Tag stand im Zeichen eines Schwerpunktes.
Am ersten Tag standen verschiedene Bereiche feministischer Klassenpolitik im Fokus und es gab Workshops zu Intersektionalität, zu feministischer Ökologie, und zu feministischer Ökonomiekritik. Am zweiten Tag ging es um Arbeit und Austerität. In den Workshops wurden verschiedene feministische Organisierungen in der bezahlten und unbezahlten Arbeit vorgestellt: Frauenstreiks in Spanien und Lateinamerika, Frauenpolitik in Gewerkschaften in Deutschland, Kroatien und Mazedonien sowie Arbeitskämpfe in der prekären Lohnarbeit (hierunter Krankenpflege in Kroatien, Textilbranche in der Ukraine, undokumentierte migrantische Frauenarbeit in Griechenland). Der dritte Tag hatte „Reproductive Justice“ (dt.: reproduktive Gerechtigkeit) zum Thema. Dieser in den USA von Schwarzen Feministinnen geprägte Begriff bedeutet eine Verbindung von reproduktiven Rechten, insbesondere dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch, mit sozialen Rechten, z.B. der Unterstützung von Eltern und Kindern unabhängig von sozialer Herkunft. In den Workshops ging es um linke Ansätze gegen geschlechtsspezifische Gewalt, Kämpfe für Abtreibungsrechte, Ansätze für die Verbesserung der Situation von Care-Arbeitenden und Care-Empfangenden sowie um LGBTIQ-Rechte und eine emanzipatorische Familienpolitik.
Eine linke Feminisierung der Politik bedeutet eine radikale Demokratisierung
Ein Querschnittsthema war die Frage, welche Erwartungen die Teilnehmenden in eine Feminisierung der Politik setzen. Dazu gab es eine Filmvorführung von „Alcaldessa – Ada for Mayor“, eine Dokumentation über den Wahlkampf der jetzigen Bürgermeisterin Barcelonas Ada Colau von der Liste “Barcelona en Comú“. Dies ist eine Plattform lokaler sozialer Bewegungen, die radikaldemokratische, feministische Politik in die Institutionen bringen wollen. Der Film zeigt zwar den Wahlerfolg von Colau, aber auch die Hürden, mit denen sich eine kooperative politische Organisierung in der repräsentativen Demokratie auseinandersetzen muss und die sexistischen Strukturen, gegen die eine Feminisierung der Politik ankämpft.
Zum gleichen Thema fand an einem Abend eine öffentliche Podiumsveranstaltung in einem alternativen Kulturzentrum in Belgrad statt. Es diskutierten: Sarah Leonard (Women’s Strike, USA), Jelena Miloš (Zagreb je NAŠ, Kroatien), Ángela Rodríguez “Pam” (En Marea – Unidos Podemos, Spanien) und Helena García Jiménez (Barcelona en Comú, Spanien). Dabei wurde deutlich, dass eine linke Feminisierung der Politik nicht einfach heißt, mehr Frauen in politischen Ämtern zu haben, sondern eine Veränderung des patriarchalen Charakters von Politik durch Formen radikaler Demokratie: horizontal statt hierarchisch, inklusiv statt kompetitiv, Care ins Zentrum auch des eigenen Handelns zu rücken, z.B. durch Rücksicht auf Sorgearbeitspflichten der Aktivist*innen.
Sorgearbeit im Zentrum einer feministischen Klassenpolitik
Während der fünf Tage wurden viele Themenstränge gekreuzt, aber notwendigerweise auch parallel vertieft. Ein Strang widmete sich beispielsweise dem aus einer linken feministischen Sicht heraus notwendigen Paradigmenwechsel in Ökonomie und Politik, für den auch das Care Revolution Netzwerk steht.
Die feministische Ökonomin und Aktivistin Sandra Ezquerra aus Barcelona kritisierte in ihrem Vortrag, dass die vorherrschenden Wirtschaftswissenschaften die unbezahlte Sorgearbeit völlig unzureichend behandeln und forderte, die soziale Reproduktion ins Zentrum ökonomischer Analyse und Politik zu stellen. Sie zeigte Daten aus Spanien zur unterschiedlichen Zeitverwendung von Männern und Frauen und verwies auf den Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung von Einkommen und gesellschaftlicher Teilhabe. Im Hinblick auf das politische Handeln berichtete sie davon, wie unter der aktuellen Regierung von „Barcelona en Comú“ eine Demokratisierung von Sorgearbeit angestrebt wird. Dabei bezog sie sich auf eine von ihr mit verfasste Auftragsstudie der Regierung samt Handlungsempfehlungen: Die lokale Care-Politik wurde dazu in der Wirtschafts- statt in der Sozialverwaltung angesiedelt. Das Ziel ist es, Menschen als Care-Gebende und Care-Empfangende im Lebensverlauf zu unterstützen. Außerdem sollen langfristig solidarische Modelle der Verteilung von Arbeit, Wohlfahrt und Teilhabe etabliert werden, beginnend mit dem Ausbau sozialer Infrastrukturen und einer verstärkten Aufmerksamkeit für Sorgearbeit als Fundament der Gesellschaft.
Diese Themen wurden dann in einem Workshop vertieft (“The work that makes all work possible” – Feminist struggles around care work”), in dem Jette Hausotter aus Berlin das Care Revolution Netzwerk als Organisierungsansatz vorstellte. Außerdem stellte Rafaela Pimentel aus Spanien die Selbstorganisation von Hausangestellten
Beitrag in der Reihe Perspektiven vom Autor_innenkollektiv Werkstatt Care Revolution (Text als PDF)
Dieser Text ist aus der Werkstatt, die das Netzwerk Care Revolution einmal jährlich in Buchenbach durchführt, in Gemeinschaftsarbeit entstanden. Wir freuen uns über Reaktionen auf unser Papier.
Erreichbar sind wir als Autor_innenkollektiv unter care-revolution@riseup.net.
Stand: 5.Juli 2017
Unter dem Begriff der Care Revolution entstand in den letzten Jahren eine Bewegung, die Sorgetätigkeiten zum Ausgangspunkt für gesellschaftliche Transformation nimmt. Unter Sorge – dieses Wort verwenden wir synonym zu Care – verstehen wir beispielsweise Pflegen, Trösten, Kochen, Betreuung oder Beratung, kurz gesagt all jenes, womit sich Menschen um das Wohlergehen und die persönliche Entwicklung anderer Menschen oder auch der eigenen Person (Selbstsorge) kümmern. Sorge ist von zentraler Bedeutung, denn eine soziale und solidarische Gesellschaft lebt vom Bezug der Menschen aufeinander.
1. Sorge hat im Kapitalismus keinen Platz
Die Hamburger Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker sprach nach 2007 von sozialer Reproduktion in der Krise. Sie kritisierte die damals aktuelle Debatte um die Ursachen und Folgen der Finanzkrise, die Krise ausschließlich auf Banken, Märkte oder den Euro bezog. Stattdessen betonte sie, dass, um die Kapitalverwertung zu sichern, die Löhne und die staatlichen Sozialausgaben gesenkt wurden und damit vielen Menschen Zeit und/oder Geld für Sorgetätigkeiten fehlen.
Denn Neoliberalismus als Dreiklang aus Liberalisierung, Privatisierung und Sparpolitik führt zu einer doppelten Privatisierung von Sorgetätigkeiten: Einerseits setzt sich im Neoliberalismus die Übertragung ehemals öffentlicher Pflege- und Betreuungsaufgaben an renditeorientierte Unternehmen immer weiter durch. Andererseits bewirken damit einhergehende steigende Kosten für die einzelnen Menschen aufgrund dieses staatlichen Rückzugs, dass insbesondere Frauen sich verstärkt privat um die Betreuung, Hege und Pflege ihrer Kinder und älteren Angehörigen kümmern. Wo Sorgetätigkeiten zur Ware werden, ist dies in der Regel verbunden mit für Beschäftigte nicht selbstbestimmt gestaltbaren flexiblen Arbeitszeiten und schlechter Entlohnung.
Darüber hinaus bewirken neoliberale Politiken eine generelle Umverteilung zugunsten der ohnehin schon Reichen und zulasten von Lohneinkommen und staatlichen Transferleistungen. Gleichzeitig kommt es aufgrund des Wachstumszwangs zu einer umfassenden Einbeziehung aller Bereiche in die Profitlogik; eine der Folge ist die Zerstörung von Commons im Globalen Süden, also von Wäldern, Fischgründen, Weideflächen usw. als Grundlage für traditionelle Möglichkeiten einer Existenzsicherung ohne Marktbeziehungen (Subsistenz). Die jüngste Zahl von Oxfam, wonach 2016 acht Männer über so viel Vermögen verfügten wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, ist nur ein extremer Ausdruck dieser Ungleichverteilung.
Doch das Problem heißt nicht nur Neoliberalismus. Die im Kapitalismus strukturell un- oder schlecht bezahlte Care-Arbeit ist der Nährboden für privatisierten Profit. Von der Subsistenztheoretikerin Maria Mies stammt ein in der feministischen Ökonomie oft verwendetes Bild, wonach die sichtbare Ökonomie, also die über Warenproduktion und Geld vermittelte Wirtschaft, nur die aus dem Wasser ragende Spitze eines Eisbergs darstellt, während der größere Teil des Eisbergs, bestehend aus der unentgeltlichen Nutzung von Sorgetätigkeiten, Naturressourcen und (vor allem im Zuge postkolonialer Ausbeutung) Subsistenzarbeit, ohne Gegenwert in den Profit einfließt.
Aber auch bei der Kritik am Kapitalismus kann nicht stehen geblieben werden – denn ein großer Teil seiner Negativfolgen liegt bereits in der Tauschlogik selbst begründet: Die Vorstellung, gleiche Werte tauschen zu können, wird immer nachteilig für diejenigen sein, die wenig oder nichts zum Tausch anzubieten haben.
Die begrenzte Rationalisierbarkeit und damit die bei Sorgearbeit hohe Bedeutung von Niedriglöhnen für die Profitabilität führten historisch immer dazu, dass diese an unterprivilegierte Bevölkerungsteile ausgelagert wurde. Hierdurch wesentlich begünstigt wurde eine gesellschaftliche Sphärenspaltung in eine männlich konnotierte Produktion und eine weiblich zugeschriebene Reproduktion. Wer verstehen und beschreiben will, wie eine Gesellschaft sich organisiert, muss sie als Ganzes in den Blick nehmen. Es gilt, auch danach zu fragen, wie Menschen die Arbeit der Reproduktion organisieren und verteilen – eine Frage, die allzu oft aus der Analyse ausgespart wird. So wird dieses Feld unsichtbar gemacht, seine Geschichtlichkeit und Kontextabhängigkeit werden negiert und die hier herrschenden Arbeitsteilungen als quasi natürlich und gegeben erklärt. Dies wiederum geht mit der Entwertung all derjenigen Sorgetätigkeiten einher, die kein Einkommen generieren.
Dabei ist wichtig, auch das aktive Mittun der jeweils von der Reproduktion Freigestellten mitzudenken, also von Männern gegenüber Frauen, aber auch von Weißen gegenüber Schwarzen oder, wie heute zunehmend, von Menschen mit einem Pass, der ‚mehr wert‘ ist als jener von Migrant_innen in internationalen Sorgearbeitsketten. Dies ist etwa der Fall, wenn zum Beispiel hierzulande ‚günstig‘ Polinnen für Pflegearbeit eingestellt werden und diese darum ihre eigenen Kinder anderen Frauen aus noch weiter östlich liegenden, ärmeren Ländern überlassen. Auch wenn in Haushalten insbesondere Frauen tätig sind, sind auch gegenläufige Prozesse zu beobachten, wenn zum Beispiel Migranten männlichen Geschlechts aufgrund fehlender anderer Jobgelegenheiten hierzulande Putztätigkeiten übernehmen.
Mit dieser vergeschlechtlichten, rassifizierten und/oder klassistischen (also Schichtunterschiede ausnutzenden) Arbeitsteilung geht aber nicht nur einfach die Zuweisung schlecht oder nicht entlohnter Arbeit an Menschen einer bestimmten Identitätskategorie einher. Zugleich werden solche Identitätskategorien häufig erst in diesem Prozess geschaffen.
Der in diesem Prozess ebenfalls erst entstandene Nationalstaat ist zutiefst funktional für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus. Dem Staat kommt dabei die Aufgabe zu, die allgemeinen Produktionsbedingungen zu sichern. Dazu gehört auch, die Folgen einer Wirtschaftsweise abzumildern, die sich allein am Profit orientiert. Sogenannte sozialstaatliche Errungenschaften sind nicht selbstverständlich und es gilt sie zu verteidigen; sie sind in harten Kämpfen erstrittene Zugeständnisse und Kompromisse. Gleichwohl: Sie dienen letztendlich der Befriedung von Konflikten. Dem Sozialstaat wohnt zudem eine disziplinierende Funktion inne. Wer Leistungen in Anspruch nimmt, muss ordentlicher Staatsbürger sein, Regeln befolgen, sich einem bestimmten Geschlechterregime unterwerfen usw. Solche Entscheidungen werden auch in der Zivilgesellschaft verhandelt. Doch letztlich gilt auch hier: Wer ohnehin schon systematisch privilegiert ist, verfügt auch über mehr und machtvollere Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen.
Dazu kommt, dass Widerstände vielfach integriert werden, auch indem emanzipatorisches Begehren aufgegriffen wird und sich Subjektformen entsprechend entwickeln. So erhöht die gelungene Selbstverwirklichung den Marktwert, und wir tragen längst nicht mehr nur unsere Haut zu Markte, sondern auch unsere Persönlichkeit, unsere Interessen und unsere Kreativität. Unsere Fähigkeit, uns zu verbiegen, ohne zu brechen (Neusprech: Resilienz), psychisch stabil zu bleiben sowie rasch zu regenerieren, sind Voraussetzungen unserer Beschäftigungsfähigkeit´. Auch in diesem Sinne sind wir angerufen, uns permanent zu optimieren. In neoliberalen Verhältnissen scheinen uns diese Zumutungen zum eigenen Bedürfnis zu werden.
Diese Form des als Entfremdung beschreibbaren Zusammenhangs wird in der Care-Arbeit am offensichtlichsten. Der Zwang zur Konkurrenz untereinander verhindert, sich entlang der eigenen Werte, Bedürfnisse und Fähigkeiten einzubringen. So wie es heute aus finanziellen Gründen vielfach nicht möglich ist, biologische Lebensmittel anzubauen, auch wenn es jemand leidenschaftlich gerne tut, so bedroht es häufig akut die eigene Existenzsicherung und bedeutet für viele Frauen Altersarmut, wenn sie über Monate und Jahre hinweg die eigene Mutter pflegen.
Insgesamt können wir festhalten, dass die gegenwärtige grundlegende Überforderung von Menschen besonders dort, wo es um Sorge und Sorgebedürftigkeit geht, kein Ausdruck je individuellen Versagens ist. Die Möglichkeit gelingender Sorgebeziehungen und gelingender Selbstsorge ist systemisch beeinträchtigt. Gelingende Sorge und allgemein gutes Leben erfordern andere ökonomische Beziehungen und eine andere Produktionsweise. Erforderlich ist eine Gesellschaft ohne äquivalenten Tausch, organisiert nach Bedürfnissen und Fähigkeiten.
2. Eine gesellschaftliche Alternative ist denkbarweiterlesen
Care betrifft alle Menschen und gehört zu den existentiellen Voraussetzungen jeden Lebens. Unsere Gesellschaft befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Wandel, der auf das Engste verwoben ist mit dem generellen und in Deutschland besonders markanten sozialen Wandel von der Industriegesellschaft hin zur globalisierten und beschleunigten Dienstleistungs- und Wissensökonomie. Dieser Wandel berührt auch und wesentlich die Organisation von Care-Arbeit. Der Forschungsverbund „Gender und Care – Dynamiken von Fürsorge im Kontext von Institutionen, Praxis, Technik und Medien in Bayern“ untersucht Care als Gegenstand politischer, medialer, historischer und nicht zuletzt individueller und familialer Gestaltung. Nach fast drei Jahren intensiver gemeinsamer Arbeit zeigen sich dabei Querverbindungen, die das ursprüngliche Projekt, Geschlecht und Fürsorge miteinander verschränkt zu untersuchen, sowohl präzisieren als auch in einen weiteren, gesamtgesellschaftlich relevanten Rahmen stellen: So durchziehen Fragen nach dem „guten Leben”, der Lebensqualität, die Projekte durchgehend. Inwieweit müssen gängige Konzepte von Erwerbs- und Fürsorgearbeit neu gedacht werden, um der Positionierung von Care zwischen öffentlich und privat, ökonomisiert und intim, lebensnotwendig und verworfen, gerecht zu werden?
Denn die konstatierte Care-Krise ist letztlich eine Krise der sozial- und geschlechterpolitischen Rahmenbedingungen. Dieser Zusammenhang wird insbesondere am Beispiel erwerbsförmiger Pflegearbeit sichtbar, die von Ökonomisierungsprozessen, Minutenpflege und pauschalierten Behandlungsstandards genauso geprägt ist, wie von prekären Beschäftigungsverhältnissen, der Ausweitung eines Niedriglohnsektors und einem eklatanten Fachkräftemangel. Trotz des steigenden Bedarfs an Pflegepersonal nutzen wenige Beschäftigte ihre Organisations- und Verhandlungsmacht, sondern kompensieren die mangelnde Regulierung und Ausstattung des Pflegesystems durch enorme zusätzliche Anstrengungen, die aus einem subjektivierten Verantwortungsgefühl gespeist sind. Jedoch ist es in den letzten Monaten und Jahren zunehmend gelungen, die zugrundeliegenden Rahmenbedingungen öffentlichkeitswirksam zu thematisieren: Genannt seien an dieser Stelle gewerkschaftliche Arbeitskämpfe wie der Charité-Streik in Berlin, der mit richtungsweisender Unterstützung bürgerschaftlicher Unterstützungsbündnisse einhergeht, und die aktuelle Tarifkampagne für mehr Pflegepersonal in den Krankenhäusern sowie regionale Graswurzelinitiativen wie „Pflege am Boden“ und die von ihnen mitgetragene „Kampagne Bundeweite Gefährdungsanzeige“ regelmäßige politische Talksendungen im Zuge der Wahlkampfarena bis hin zu aktuellen Debatten in sozialen Netzwerken, wie der Hashtag #twitternwierueddel.
Diese vielfältigen Ebenen und Interventionen deuten auf zwei zentrale Aspekte für die Politisierung von Care-Bedingungen hin. So kann einerseits danach gefragt werden, welches Störungs- und Veränderungspotenzial die arbeitspolitische Interessenvertretung von Care-Beschäftigten hat. Andererseits sind die Bedingungen von bezahlter und unbezahlter, häuslicher und familialer Betreuungs- und Sorgearbeit eng miteinander verwoben und somit ein breitenwirksames Thema mit einer Vielzahl an Protagonist*innen. Ein Abbild der verschiedenen gegenwärtigen und potenziellen Akteur*innen bietet nicht zuletzt das Care Revolution Netzwerk, in dem sich über 70 Initiativen und Einzelpersonen mit verschiedenen politischen Hintergründen bündeln. Um die vielfältigen Akteur*innen sichtbar zu machen und durch gemeinsame Aktivitäten zu stärken, bedarf es solche Impulse der Vernetzung.
Auf Initiative des an der OTH Regensburg angesiedelten Teilprojektes „Arbeitsbedingungen und Interessenvertretung von Pflegekräften in Bayern“ und mit Unterstützung von weiteren Mitgliedern des Verbundes soll die systematische Vernetzung von und mit Praxispartner*innen umgesetzt werden. In Kooperation mit der Münchner Volkshochschule veranstaltet der Verbund am 30. Juni 2018 das Kümmert Euch! BarCamp in München. Zentrale Inhalte orientieren sich an folgenden Fragen:
Wie können Menschen, die im Feld von Fürsorge, Care, Sich-kümmern tätig sind, politisch handeln, sichtbar werden, und sich gegenseitig unterstützen?
Welche Initiativen gibt es schon?
Wie können konkrete Aktionen und Bündnisse gestaltet werden?
Wie können wir das „gute Leben“ politisch mitgestalten?
Welche Rahmenbedingungen braucht es dazu?
Intensiver Wissensaustausch und Vernetzungsaktivitäten stehen bei BarCamps im Vordergrund und bieten somit die Grundlage zum gemeinsamen Lernen für Menschen, die in Fürsorge, Pflege, Erziehung und Sozialpolitik tätig sind. Das Barcamp lädt alle Menschen ein, die Fürsorge empfangen oder geben, ob professionell, ehrenamtlich, oder unentgeltlich im Privathaushalt und sich für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung von Fürsorgetätigkeiten engagieren möchten. Das offene Format BarCamp unterstützt diesen Anspruch, indem das Programm vor Ort von den Teilnehmer*innen selbst gestaltet wird. Ein Barcamp beginnt mit einer kurzen Vorstellungsrunde der Anwesenden. Jede*r kann zu Beginn eine Session – einen Workshop, Vortrag, das Vorstellen einer Initiative, open space, oder etwas ganz anderes – vorschlagen. Diskussion, Kennenlernen und Erfahrungsaustausch sind genauso möglich wie das gemeinsame Planen und Entwickeln konkreter Projekte. Jede Session dauert dabei ca. 45 Minuten. Das Barcamp lädt alle Menschen ein, die Fürsorge empfangen oder geben, ob sie professionell, ehrenamtlich, oder unentgeltlich im Privathaushalt tätig sind, denn Vernetzung und Sichtbarmachung sind wichtig, um Veränderungen zu erwirken und zukünftige Rahmenbedingungen bedarfsorientiert im Sinne eines „guten Leben für alle“ zu gestalten.
Die Veranstaltung ist kostenlos und der Veranstaltungsort barrierefrei zugänglich. Aufgrund der begrenzten Raumkapazität ist eine Anmeldung (bis 15. Juni 2018) erforderlich und ab sofort möglich unter
Beitrag in der Reihe Perspektiven von Ronald Blaschke
Auf dem Netzwerktreffen im Oktober 2017 wurde als Schwerpunkt die Verknüpfung von Care-Bewegung und Grundeinkommensbewegung diskutiert. Aus diesem Anlass verweisen wir gerne auf einen Text zu diesem Thema, der im Dezember 2014 in „Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich“ erschienen ist: Grundeinkommen und Care-Arbeit.
Beitrag in der Reihe Perspektiven von Fredrik Wolze
In diesem Beitrag geht es mir darum darzulegen, wie sich die Entwicklungen der Krise sozialer Reproduktion im Bereich der sozialpädagogischen Jugendhilfe äußern. Hierzu stelle ich zunächst die Folgen der Ökonomisierung und Kostenbegrenzung in der Jugendhilfe für die Beschäftigten und für die Adressat_innen der Angebote dar. Anschließend zeige ich auf, dass sich durch das Senken der Reproduktionskosten der Arbeitskraft in der Jugendhilfe deren Reproduktionsbedingungen verschlechtert haben, und dieses auf die Verwertungsbedingungen des Kapitals rückwirkt.weiterlesen
Bei der letztjährigen Werkstatt Care Revolution in Buchenbach entstand die Idee, die Bedeutung von Care für unsere Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft aufzuschreiben. Dafür trafen sich Teilnehmer_innen der Werkstatt, um diese Idee umzusetzen. Das Ergebnis ist ein Text mit dem Titel „Sorge ins Zentrum einer Alternative zum Kapitalismus“, den Ihr hier findet. Wir freuen uns über Rückmeldungen und Diskussionsbeiträge.
Unser Dank gilt allen Aktiven und Teilnehmenden des Symposiums „Ein Gutes Leben für Alle? Postwachstum meets Gender“, besonders für diesen Artikel Dieter Schmidt und Mike Laufenberg, als auch den Kommunard*innen und Kollektivist*innen aus Niederkaufungen. Weiterhin danken wir dem Redaktionskollektiv dieser Seite für die redaktionelle Hilfe. Wir freuen uns über eine kritische Auseinandersetzung mit weiteren Interessierten.
Care Revolution und Degrowth sind zwei Antworten auf ein krisengeschütteltes System. Es ist strategisch bedeutsam und clever, auszuloten, welche Verbindungslinien die Bewegungen aufweisen, wo sie sich unterscheiden und wie sie sich solidarisieren und ggf. verbünden können, um gemeinsam an der Vision eines „Guten Lebens für Alle“ zu arbeiten.
Wir schließen dabei an einen bereits gestarteten Dialog an: So berichtete Jette Hausotter im März 2014 auf dem degrowth-blog von der Aktionskonferenz, auf der das Netzwerk gegründet wurde, und im Juni 2016 beantworteten Matthias Neumann und Gabriele Winker die Fragen der degrowth-Redaktion im Rahmen der Serie Degrowth in Bewegung(en). Auch das troubleeverydaycollective, hat sich in diesem Rahmen zum Thema Care bzw. Reproduktionsarbeit und Postwachstum geäußert und dabei u.a. auf die Care Revolution Bezug genommen. Das Jahr 2017 wartet unter anderem mit der Konferenz Care & Postwachstum des Konzeptwerks Neue Ökonomie vom 17. bis 19. November in Leipzig auf.
Im Juli 2016 fand in Berlin ein Symposium statt, dass sich unter dem Titel „Ein Gutes Leben für Alle? – Postwachstum meets Gender“ der Frage der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse im Postwachstum widmete. Die Autor*innen waren selbst Teil des Organisationsteams und Referent*innen an diesem Tag. Wissenschaftler*innen aus dem universitären Betrieb, Forscher*innen und Multiplikator*innen aus der Praxis und Aktivist*innen aus verschiedenen wachstumskritischen und/oder alternativen Sorge-Strukturen trafen sich zum gemeinsamen Austausch über das, was wir als Praxen des Postwachstums bezeichnen. Zentrale Fragen nach Verteilungsgerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit wurden mit Fragen nach Geschlechtergerechtigkeit besprochen. Geschlechtergerechtigkeit ist hierbei ein von den Organisator*innen gewählter Begriff, der als gleichsam wichtiger strukturpolitischer Wegpunkt, aber auch als Zwischenstation hin zu einer symbolisch-normativen Neuordnung mit dem Ziel der Auflösung der heteronormativen, binären Idealisierung von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ zu verstehen ist.
Als Einstieg in eine Artikelserie wenden wir uns mit dem Blick der Care Revolution möglichen Alternativen in der erwerblichen Pflegearbeit zu und diskutieren Zugänge der Kollektivierung von Für-/Sorge anhand zweier Beispiele. Diese wurden auf dem ersten Podium des Tages: „Care jenseits von Wachstum – am Beispiel der Pflegearbeit“ vorgestellt und nach deren Alternativcharakter zur Pflege im Alter befragt. Nach einer Zusammenfassung des Podiums skizzieren wir beispielhaft, wie die Neuorganisierung von Sorgearbeit in der Pflege funktionieren kann. Die praktische Umsetzung alternativer Care-Modelle sollte hierbei in den sozialen, örtlichen und wirtschaftlichen Spannungsfeldern, in denen die besprochenen Projekte be-/stehen, analysiert werden. Sie alle haben mit den neoliberalen Umstrukturierungen des Wohlfahrtsstaates direkt zu tun, was die genannten Spannungsfelder stark mitbestimmt.
Ein Zusammendenken von Care Revolution und wachstumskritischen Analysen und Forderungen erscheint uns aus verschiedenen Beweggründen notwendig: (1) Es ist wichtig der stetigen Verlagerung von sorgenden Arbeiten in private Haushalte, zumeist zu Lasten von Frauen* mit oder ohne Staatbürger*innenschaft, und darüber hinaus der ‚Verehrenamtlichung‘ von Care als Folge des Abbaus allgemein zugänglicher (öffentlicher) Infrastrukturen, entgegenzutreten, (2) Sorgearbeiten und die gesellschaftliche Stellung von Care muss aufgewertet werden und gehören ins Zentrum bedürfnisorientierten, wirtschaftlichen Handelns, (3) kollektive Versorgungs- und Fürsorgemodelle können Handlungsstrategien bieten, um dies zu erreichen, (4) doch auch diese Modelle sind ebenso von den Herrschaftsverhältnissen betroffen bzw. müssen Stellung beziehen, um sie nicht mitzugestalten. Diese Diskussion wird im zweiten Teil der Artikelserie weitergeführt, um konkrete Anforderungen an Bündnisse zu formulieren.
Transdisziplinärer Dialog: Solidarische Experimente in der professionellen Pflege
Mike Korsonewski (Humboldt Universität Berlin) berichtete von seinen Interviews mit Mitarbeiterinnen* der Tagespflege Lossetal, die im Rahmen seines Forschungsprojekts zu Verknüpfungen von feministischen Ansprüchen an eine Postwachstumsgesellschaft und geschlechtergerechten Pflege- und Sorgepraktiken geführt wurden. Die Tagespflege Lossetal ist ein Kollektivbetrieb der linkspolitischen Kommune Niederkaufungen und auch Mitglied des Care Revolution Netzwerks. Dieter Schmidt, Mitarbeiter der Schwulenberatung Berlin gGmbH und aktiv im Netzwerk „Anders Altern“, teilte auf dem Panel seine Erfahrungen in der Organisation der Pflege-WG im Mehrgenerationshaus „Lebensort Vielfalt“. Beide Referenten beleuchteten, wie Aspekte von Care Revolution und Wachstumskritik in diesen Projekten praktisch miteinander verknüpft sind – auch ohne dass sich die Protagonist*innen zwangsläufig in diesen Bewegungen verorten.
Als Beispiel einer selbstorganisierten Lebensgemeinschaft ist die Kommune Niederkaufungen mit einem Bestehen von über 30 Jahren und dem stetigen Wandel besonders interessant für die Care Revolution- und die Degrowth-Perspektive. Die Kommune basierend auf einem konsensual vereinbarten Grundsatz, welcher u.a. die zweigeschlechtliche, patriarchale Arbeitsorganisation im Kapitalismus kritisiert. Dabei weisen die interviewten Kommunardinnen* eine konsum- und konkurrenzzentrierte Gesellschaft und Wirtschaft, und das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie zurück. Letztere diene als Ort der Verdrängung der nötigen Erholung vom Lohnarbeitsstress ins Private, wo alle Bedürfnisse nach Versorgung und Fürsorge in einem Modell der glücklichen Heterofamilie befriedigt werden sollen. Die Effekte, die damit zumeist einhergehen, nämlich erstens die Ausbeutung der Arbeitskraft von Frauen*, zweitens die Individualisierung und Abwertung von Care-Verantwortung und fürsorglichen Arbeiten gegenüber anderen Formen der Arbeit und drittens das Verkümmern von tiefen Beziehungen und Verbundenheit, besonders außerhalb der Kernfamilie, lehnen die Kommunebewohner*innen ab. Sie begegnen diesen einseitigen Normierungen durch ein selbstorganisiertes System der Umverteilung und Aufwertung notwendiger gesellschaftlicher Reproduktion(sarbeiten). Die Trennung zwischen öffentlicher Produktionssphäre und privater Reproduktionssphäre wird weitgehend aufgelöst. Das fördert die selbstbestimmte Verantwortungsübernahme, gleichermaßen für alle anfallenden Arbeiten, für die eigenen Bedürfnisse als auch für die anstehenden Entscheidungen für die gesamte Kommune.
Die Erfahrung zeigt aber, dass heteronormative, kleinfamiliäre Strukturen inklusive der fortgeführten Feminisierung von Sorgetätigkeiten damit nicht vollständig aufgelöst sind. Die Gefahr besteht, dass diese erneut zum Ausschluss insbesondere von Frauen* von Plena und Entscheidungsprozessen führen können als auch die Nutzung der Gemeinschaftsräume bestimmt. Die Entscheidungsprozesse in den wöchentlichen Plena basieren auf dem Konsensprinzip und nicht auf Mehrheiten. Dafür ist eine breite Informationslage und Zusammenarbeit nötig. Das kann aufwendig und langwierig sein. Für das Mitsprechen und Mitbestimmen brauchen Kommunard*innen daher kommunikative Fähigkeiten, die über ein übliches Konsensverhalten im Alltag hinausgehen und die nötigen Zeitressourcen. Wie Mike Korsonewski erläutert, habe sich allerdings teilweise eine Enthaltungskultur etabliert, so dass mitunter Themen gar nicht erst angesprochen werden. Das romantische Bild der politischen Kommune sollte der Einsicht weichen, dass auch dort Dilemmata und Kämpfe zu bewältigen sind, aus denen alle lernen können.
Somit gilt es weiterhin an funktionierende und herausfordernde Praktiken solidarische und vielfältige Formen der Verbundenheit zu knüpfen, wie im Grundsatzpapier der Kommune ausgewiesen. Dies zeigt sich nicht nur im Zusammenleben sondern auch beim gemeinsamen Arbeiten. Die Kommune betreibt verschiedene Kollektivbetriebe, zu denen die Tagespflege Lossetal zählt, und wirtschaftet in einer gemeinsamen Ökonomie. Die interviewten Kollektivistinnen* berichteten Mike Korsonewski, dass dadurch der Druck, den eigenen Lebensunterhalt vollkommen allein finanzieren zu müssen, nahezu verschwindet. Die gemeinsame Ökonomie ist jedoch nicht gänzlich marktunabhängig, weil die Mehrzahl der Betriebe der Kommune auf Einnahmen durch den Verkauf von Waren und Dienstleistungen außerhalb der Kommune angewiesen ist und sich auch strapaziöse Kassenlöcher einstellen können, was u.U. zu Diskussionen über unterschiedliche Konsumbedürfnisse und Arbeitsverhalten führt. Trotzdem berichten die Kollektivistinnen* der Tagespflege, dass solch eine Form ökonomischer Selbstverwaltung zum Gefühl von Rückhalt, einer hohen Zuversicht und zur bedürfnisgerechten Versorgung im höheren Alter bzw. bei höherem Pflegebedarf führe – für sich selbst und für andere.
Außerdem verändern sich die Zeitbudgets im Vergleich zur 40-Stunden-Woche in einer vergleichbaren Lohnbeschäftigung, da im Kollektiv transparent und möglichst gleichberechtigt über den Dienstplan entschieden wird. Dazu gehört auch, dass Personen, die durch Krankheit, reproduktive Tätigkeiten oder persönliche Krisen weniger Stunden übernehmen können oder sogar ‚ausfallen‘, finanziell und psycho-sozial aufgefangen werden. In der Kommune gibt es dafür z.B. Pat*innenschaften für die kollektivere Gestaltung der Kinderbetreuung und die Kümmerei, was zweierlei meint: zum einen das selbstbestimmte Wählen und Erledigen aller Aufgaben der Geländepflege und Instandhaltung und, zum anderen, die unterstützende und vermittelnde Begleitung der Kommunard*innen im Alltag durch andere. Trotz der bedürfnisgerechteren Arbeitsorganisation kann auch in der Kommune und im Kollektiv der Arbeitsdruck sehr hoch sein, weil der Grad der Selbstverpflichtung und der Arbeitsethos sehr hoch gehalten werden: „Es kann so vieles getan werden und alle verlassen sich aufeinander“, wie es eine Kommunardin zusammenfasst.
Die Verbindung der Dimension Zeit mit dem kollektiven und lokalen Bewusstsein wird durch den Alltag der Tagespflege Lossetal erfassbar und entsteht in einem wechselseitigen Lernprozess mit der Kommunengemeinschaft. Beziehungsarbeiten und die Pflege von älteren und demenziell erkrankten Menschen verlangen das tiefe emotionale und vertrauensvolle Einfühlen in den*die zu Pflegende*n und es müssen dabei mehrere Zeitebenen verhandelt werden, u.a. die unterschiedlichen Zeitempfinden der Pflegeempfangenden als eine mögliche Folge von Demenz, die Zeitmaße zur Benennung und zum adäquaten Nachgehen von Bedürfnissen von Pflegeempfangenden, aber auch zur eigenen Erholung der Pflegenden, als auch entlang der zeitlichen Rahmensetzung zur Ermöglichung eines (alltäglichen, betrieblichen) Ablaufs etc.. Es wird ein gleichberechtigtes Zusammenspiel von Pfleger*innen und Pflegebedürftigen, Gästen wie sie im Umgang im Tagespflegealltag benannt werden, angestrebt, bei dem die Bedürfnisse der letzteren im Fokus stehen, anstelle eines taktierten Versorgens von ‚Patient*innen‘. Die Qualität der Pflege wird sowohl durch die Kommune eigenen Prinzipien wie Konsens, Kooperation, Selbstbestimmung und Nachhaltigkeit der Arbeit, als auch durch die Lernprozesse aus der Interaktion mit den zu pflegenden Gästen erreicht. Diese sind Träger*innen eines gewachsenen, wertvollen „alten Lebens“, wie eine Kommunardin es nennt.
Der Einbezug der zu Pflegenden in die Frage, wie gepflegt werden soll, ist für eine menschenwürdige Versorgung, wie sie die Care Revolution anstrebt, Voraussetzung. Besonders deutlich wird dies, wenn die zu pflegenden Menschen gesellschaftliche Ausschlüsse und gewaltvolle Diskriminierung in ihrem Leben erfahren (haben). Diskriminierungsfreie Räume für ein nicht nur sorgenarmes, sondern auch angstfreies Altern zu schaffen, kann daher als wichtiges Ziel der Neuorganisierung von Care angesehen werden.
Der „Lebensort Vielfalt“ der Schwulenberatung Berlin gGmbH mit seiner integrierten Pflege-WG ist für die Umsetzung dieses Anliegens ein Beispiel und stand im Mittelpunkt des Beitrags von Dieter Schmidt. Das Wohnhaus ist als Mehrgenerationenwohnen für ein nachbar*innenschaftlich-unterstützendes Zusammenleben einer heterogenen Bewohner*innenschaft konzipiert. Zurzeit setzt sich diese aus größtenteils schwulen Männer* (60% ältere, 20% jüngere) und 20% Frauen zusammen. Das Alltagsleben wird durch einen ambulanten Pflegedienst für die WG ergänzt.
So gut das Projekt jetzt steht, musste es auch zu Anfang Hürden überwinden, denn Bank und Kreditinstitute waren sehr skeptisch gegenüber der zu erwartenden Rentabilität. Diese Einschätzung beruhte auf der vermuteten, eher geringen Umsatzaussicht durch zunächst vergleichsweise wenige Bewerber*innen für die Wohnungen. Die Umsetzung des Projektes konnte erst durch einige Privatspenden und eine umfangreiche Förderung der Klassenlotterie und der Stiftung Aktion Mensch gewährleistet werden. Die Projektverantwortlichen der Schwulenberatung Berlin gGmbH aus Vorstand und Geschäftsführung mussten hohe ökonomische Risiken tragen, da auch privatwirtschaftliche Kreditinstitute Sorgearbeit als ‚nicht lukrativ‘ und geschäftlich ‚nicht profitabel‘ sehen. Das Netzwerk „Anders Altern“, welches seit 2003 besteht und die Konzipierung des Hauses maßgeblich begleitete, fungiert einerseits als Plattform zur Begegnung, zum Austausch und Organisation von pflegepolitisch und pädagogisch aktiven Menschen der schwulen Senioren*arbeit und begleitet andererseits die Bewohner*innen des nun seit 2012 bestehenden ersten Hauses inklusive der Pflege WG der Schwulenberatung Berlin gGmbH. Weitere Projekte dieser Couleur sind aufgrund der sehr großen Nachfrage in Planung.
Durch politische und ökonomische Weichenstellung gleich zu Anfang, kann der Lebensort soziale Ungerechtigkeit abmildern. Vier Wohnungen im Nachbarschaftshaus stehen für Menschen mit Grundsicherung bzw. Hartz IV zur Verfügung. Auch die derzeit in der Pflege-WG wohnenden Männer* erhalten durchweg Grundsicherung. Die Miete der einzelnen Wohnungen wird durch eine freiwillige Selbsteinschätzung je nach Einkommen solidarisch aufs ganze Haus umverteilt. Wer kann, zahlt einen Euro mehr pro Quadratmeter.
Dieter Schmidt, der seit Jahren in der Schwulenberatung und im Haus tätig ist, hebt die Praxis der „Kultursensiblen Pflege“ hervor, die den Lebens- und Arbeitsalltag seit der Eröffnung 2012 stetig qualitativ hochwertig hält. Dieses Konzept meint gute Pflege und Versorgung für alle Menschen unter achtsamer Berücksichtigung ihrer individuellen Lebensgeschichte und gleichzeitiger Wahrnehmung und Anerkennung ihrer Vielfalt. Sozial konstruierte Differenzen werden durch die sensibilisierte und bedürfnisorientierte Pflege anerkannt, statt Ausschlüsse und Diskriminierungen bis ins höhere Alter durch inadäquate Pflege zu verstärken. Das Betreuungs- und Pflegepersonal wird dafür bewusst ausgewählt und schwule Lebensweisen und Erfahrungswelten werden quasi Peer-to-peer geteilt. Pflegearbeit kann nach diesem Prinzip zum einen fern ab von standardisierten und eng getakteten Abläufen gemacht werden, wie sie vermehrt in renditeorientierten Betrieben erledigt wird, und wird zum anderen aus stereotypen und geschlechterbinären Verhältnissen enthoben.
Die sozialen Angebote der Schwulenberatung Berlin gGmbH, die im Lebensort Vielfalt mitangesiedelt ist, stehen allen unabhängig vom Einkommen zur Verfügung – sowohl den Klient*innen als auch den Bewohner*innen des Hauses. Gemeinsame Besprechungen in großer Runde und verschiedene Gesprächskreise des Wohnhauses sollen den Kontakt untereinander fördern und Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander und mit den pflegebedürftigen bzw. demenzerkrankten Männern* schaffen. Das Mehrgenerationenkonzept und die relative Nähe aller Bewohner*innen zueinander unabhängig vom Maß der Pflegebedürftigkeit haben einen großen Anteil an der Lebensqualität und dem hohen Maß an Fürsorglichkeit. Die Bewohner*innen sind dadurch nicht mit der Individualisierung und Abhängigkeit einer konventionellen Pflegedienstleistung und Wohnsituation und der damit zusammenhängenden Exklusion durch Diskriminierung im heteronormativen Mainstream konfrontiert. Statt Vereinzelung wird ein Lebensalltag der Vielfalt, wie es der Projekttitel des Lebensortes beschreibt, geschaffen. Es handelt sich um eine kooperative und fürsorgliche Alternative im Umgang mit dem Thema Alter – ein Thema das in queeren Szenen genauso wie gesamtgesellschaftlich nicht selten als ‚unattraktiv‘ gilt.
Der Pflegedienst für die Pflege-WG, der aus weiblichen* und – überwiegend – männlichen* Pfleger*innen, hetero- wie homosexuellen, besteht, organisiert das Mittagessen, weshalb die Versorgung als geschlechtergerecht geteilt betrachtet wird. Im Sinne der „Kultursensiblen Pflege“ wird auch darauf geachtet, dass das Pflegeteam zur Hälfte schwul sein sollte, um eine größtmögliche Vertrautheit mit der Lebenswelt der Bewohner* gewährleisten zu können. Die Pflegeleitung übernimmt ebenfalls ein schwuler Mann. Den Bewohnern* der WG, die ihr Lebensumfeld möglichst aktiv mitgestalten sollen und können, wird freigestellt, mit zu kochen, wenn sie dazu Lust haben: „Niemand muss, aber alle können“, so Dieter Schmidt. Dies klingt zunächst sinnvoll, auch in Bezug auf die komplexen und sich stark voneinander unterscheidenden Krankheitsbilder der Bewohner*. Es führt jedoch dazu, dass viele, die vorher keine Lust aufs Kochen hatten, sich jetzt auch nicht beteiligen und notwendige Arbeiten nicht von vielen und unterschiedlichen Menschen sondern zumeist von den ambulanten Pfleger*innen erledigt werden. Ein frei stellen führt also nicht notwendigerweise zu individueller Veränderung und einer kritischen Verschiebung vergeschlechtlichter Arbeitsorganisation. Kann einer solchen Arbeitsorganisation durch die Zusammensetzung der Pflegenden und die geschlechtsübergreifend Verteilung von Haus- und Sorgearbeit innerhalb des Pflegedienstes entgegen gewirkt werden? Inwiefern lässt sich bei den Pflege-WGs eine Alternative zur tradierten Feminisierung von Sorge- und Hausarbeit feststellen?
Alternative Pflegemodelle – transformativ oder systemstabilisierend?weiterlesen
Seit der Aktionskonferenz und der Verabschiedung der Resolution der Care Revolution 2014 sind drei Jahre vergangen. In unserem Netzwerk, aber auch in Deutschland und der Welt hat sich vieles verändert. Wir, der AK-Repro Berlin, wollen mit dem folgenden Text zu der weiteren Auseinandersetzung mit einem wichtigen Aspekt dieser Veränderungen anregen: Nämlich, dass rechte Bewegungen und Parteien hier wie andernorts massiv an Zulauf gewinnen und der Diskurs um Geflüchtete und Migration uns täglich mit rassistischem Denken und Handeln konfrontiert. Auf dem bundesweiten Netzwerk-Treffen 2016 in Hamburg gab es bereits einen Workshop zu dem Thema. Was bedeuten diese Entwicklungen aus einer care-revolutionären Perspektive und welche Schlüsse ziehen wir daraus für unsere Aktivitäten? Nur, wenn wir uns mit dieser Frage beschäftigen, werden wir als Care-Revolutionär*innen im Stande sein, den Rechtsentwicklungen etwas entgegenzusetzen.
Die Flucht- und Migrationsbewegungen des Sommers 2015 haben die gesellschaftliche Konstellation und das politische Feld ganz schön durcheinander geschüttelt. Sie haben das Krisenregime der EU ins Wanken gebracht, das in den Ländern des südlichen Europas enorme soziale und ökonomische Einschnitte verursacht hat. Die etablierten Parteien und politischen Institutionen leiden unter einem enormen Vertrauensverlust und mit schwindender Legitimation setzen sich auf nationalstaatlicher wie europäischer Ebene autoritäre Regierungsweisen durch. Der Rechten gelingt es, die lange bestehende ökonomische und gesellschaftliche Krise und ihre Folgen im Alltag der Menschen rassistisch zu deuten und ein gesellschaftliches Klima zu schüren, in dem Angst und Konkurrenz dominieren.
Zu dieser Konstellation gehört auch die katastrophale Versorgung der Geflüchteten von Seiten des deutschen Staates. Darin offenbart sich nicht nur die teils strukturell-rassistische Verfasstheit der Sozialsysteme, sondern auch die dramatischen Folgen, die jahrzehntelanges Sparen an öffentlichen Infrastrukturen (nicht zuletzt der öffentlichen Verwaltung) gezeitigt haben. Eine humanitäre Katastrophe konnte insbesondere im Winter 2015 nur dadurch verhindert werden, dass Millionen von Menschen in ,Willkommensinitiativen’ spontan und ehrenamtlich eingesprungen sind, um mit Spenden und vor allem durch praktische Solidarität den Geflüchteten das Nötigste zur Verfügung zu stellen. Diese Bewegung der Solidarität war hierzulande überraschend und etwas qualitativ Neues. Sie hat deutlich gemacht, dass die Bereitschaft, eine zunehmend entmenschlichende Politik sang- und klanglos hinzunehmen bei vielen Leuten Grenzen hat, und umgekehrt, dass die Potentiale praktischer Solidarität deutlich größer sind, als die allermeisten (Linken) das gedacht hätten. Gleichzeitig ist es der politischen und gesellschaftlichen Rechten gelungen, diese über Monate medial als ‚Flüchtlingskrise’ bezeichnetet Situation für sich zu nutzen. Lokale Pegida-Ableger und bereits bestehende Neo-Nazi-Strukturen konnten und können massenhaft Leute zu ‚wir sind das Volk‘-Kundgebungen und Demonstrationen mobilisieren sowie gewalttätige und lebensgefährliche Angriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte organisieren. In Jahr 2016 wurden fast 1000 Anschläge auf Flüchtlingsheime verübt, davon hatten laut Innenministerium 857 Anschläge einen rechtsradikalen Hintergrund, also rund 93 Prozent. Dabei wurden 560 Menschen verletzt, darunter 43 Kinder. Während neofaschistische Gruppen also nachts Menschen und Gebäude attackieren, nutzt die AfD bei Tage die Stimmung für sich.
So erreichte die AfD, was zahlreiche rechte Parteien zuvor nicht geschafft hatten: Sie konnte sich als politische Kraft rechts der CDU/CSU in der deutschen Bundespolitik etablieren. Außerdem gelang es ihr, die offensichtliche ‚Versorgungskrise’ rassistisch zu politisieren, diese als einen vermeintlichen Verteilungskampf um knappe Ressourcen darzustellen und national-soziale ‚Lösungen’ vorzuschlagen. Ihre Demagogen beklagen die hohe Kosten, die Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten mit sich bringe, und spielen dabei Geflüchtete gegen in Armut oder am Rande der Armut lebende Menschen mit deutschem Pass aus. Ihre Skandalisierung beruht jedoch auf einer falschen Gegenüberstellung: kein Mensch mit deutschem Pass ist wegen Geflüchteten ärmer geworden. Armut und die Krise sozialer Reproduktion sind ein Resultat etablierter Politiken, die seit Jahrzehnten betrieben werden. Des Weiteren konnte die AfD den verbreiteten Eindruck, die Politik’ agiere über die Köpfe der Leute hinweg, populistisch aufgreifen und sich als einzig echte ‚Alternative‘ zum maroden Politikbetrieb darstellen. In Folge erzielte sie bei Landtagswahlen aus dem Stand zweistellige Ergebnisse. Sie bildet eine Art Bündelungspunkt, der über antimuslimischen Rassismus, über anti-feministische und trans/homofeindliche Themensetzungen sehr unterschiedliche Teile des rechten Spektrums und bis weit in die sog. Mitte hinein zu verbinden vermag.
Insgesamt formiert sich die Rechte offensiver und schafft es mehr und mehr Leute hinter sich zu versammeln. Ihre Politik richtet sich nicht nur gegen Geflüchtete, sondern auch gegen Frauen*, Nicht-Heterosexuelle, Arme und sozial ausgegrenzte Menschen. Reaktionäre Familien-Rollenbilder, Rassismus und der Hass gegen eine offene Gesellschaft prägen das politische Weltbild der rechspopulistischen Bewegung. Dieser wachsende Rechtspopulismus, der sich mit der neuen Rechten verbunden hat und in Teilen neofaschistische Züge annimmt, ist außerdem längst nicht nur ein deutsches Phänomen. Sowohl die enormen Erfolge, wenn auch knapp verfehlte Präsidentschaft des Front National in Frankreich, als auch die Volksabstimmung zum BREXIT und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ziehen ihre Kraft aus ähnlichen Konstellationen. Diese internationalen Rechte verstärkt sich dabei auch gegenseitig, so beruft sich Trump positiv auf den Brexit, Front National und AfD wiederum nutzen den Sieg Trumps zu ihrer Selbstbestätigung.
Um die Frage, wie es angesichts dieser teils dramatischen Situation mit der gesellschaftlichen Entwicklung weitergehen soll, werden heftige Auseinandersetzungen geführt. Im medialen und politischen Raum polarisiert sich die Konstellation zwischen (autoritär-)neoliberalen Kräften auf der einen und Rechtspopulisten auf der anderen Seite. Die oben beschriebenen solidarischen Initiativen, Einzelpersonen und linke Kräfte sind in Deutschland kaum noch medial präsent, und finden keinen gebündelten politischen Ausdruck. Ihr engagiertes, solidarisches Wirken hat sich bisher nicht in einen politischen Einspruch übersetzt.
Wir halten es für eine drängende Herausforderung, an einem solchen gemeinsamen politischen Ausdruck zu arbeiten und eine Art ‚dritten Pol’ in dieser Konstellation öffentlich wirksam zu machen. Es bedarf unbedingt einer queerfeministischen, antirassistischen und sozialen – einer alle Menschen einschließenden und soziale Ungleichheiten thematisierenden – Alternative zur derzeitigen Politik. Wir denken, dass dies möglich ist. Das Netzwerk Care Revolution kann Teil einer solchen gesellschaftlichen Kraft sein, die mit solidarischen Care-Politiken gegen rechte Projekte eintritt. In jedem Fall lohnt es sich, darum zu kämpfen!
Was kann all das für uns und unsere Care-Politiken heißen?
Die Themen und Praxen, die sich im Netzwerk wiederfinden, sehen jedoch im Einzelnen sehr unterschiedlich aus. Unterschiedliche Gruppen des Netzwerks betrifft das Erstarken der Rechten auf unterschiedliche Weise. In der Resolution von 2014 haben wir einiges zusammengetragen, wofür das Netzwerk Care Revolution eintritt, als gemeinsamer Nenner ist dabei die Forderung nach einem guten Leben für alle weltweit als Konsens anzusehen. Wie können wir dieser Forderung unter veränderten Bedingungen eine konkrete Gestalt geben und ihr in unseren alltäglichen Kämpfen Ausdruck verleihen?
Solidarität ist für uns dabei ein zentraler Punkt. Solidarisches Handeln arbeitet einerseits der neoliberalen Idee eines vereinzelten Individuums entgegen und verhindert, dass sowieso schon marginalisierte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Auf der anderen Seite stehen solidarische Praxen auch für eine Kommunikation auf Augenhöhe, gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung von Minderheiten nach Äußerlichkeiten / Sexualität / ökonomischer Liquidität / Pass – letztlich dafür, dass allen Menschen gleiche Rechte zustehen. Rechte Initiativen wie Pegida machen sich die neoliberale Vereinzelung zu Nutze, in dem sie das reale Angebot machen, (kollektiv) politisch aktiv zu werden, sich selbst zu ermächtigen, gegen „Die-da-oben“, Teil einer Bewegung zu sein. Dabei bieten sie scheinbar einfache Lösungen an, in dem sie fordern, dass nur deutsche Menschen vom Sozialsystem unterstützt werden sollten. Somit ist „der Feind“ schnell ausgemacht: Geflüchtete, die das Geld des Sozialsystems für sich beanspruchen, wodurch ein Nachteil für Deutsche entstünde. Hinter dieser Logik steckt ein autoritär-rassistisches Verständnis von Politik, das die offenkundigen Lücken des Sozialsystems als Kampf um Ressourcen auslegt zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen. Diese Behauptungen wurden faktisch von zahlreichen Studien widerlegt. Durch Geflüchtete sind beispielsweise Hartz4-Empfänger*innen keinerlei finanzielle Nachteile entstanden. Es muss aus einer solidarischen Perspektive nun darum gehen, zu diskutieren, Menschen konkrete Angebote zu machen, sich auseinanderzusetzen, sich aber auch abzugrenzen von denjenigen, die Rassismus und Neofaschismus zu ihrem Grundverständnis von Politik erklären.
Tatsächlich ist es so, dass Angebote und Initiativen von links vielerorts fehlen, vor allem auf dem Land. Pegida und andere Gruppen bieten einfache und häufig postfaktische Antworten, sie stoßen mit ihren Praxen aber auch in eine Lücke des politischen Aktiv-Seins. Ein solidarischer Pol muss sich also auch nach außen wenden, als Angebot für die breite Bevölkerung sichtbar sein. Macht entsteht durch gemeinsames politisches Handeln.
Eine zentrale Antwort des Care-Netzwerks gegen rassistische Hetze sollte darin bestehen, gezielt die positive Erfahrungen zu stärken, dass durch eigenes solidarisches politisches Handeln Bedingungen in einem emanzipatorischen Sinne gestaltet und verändert werden können. Solidarische Praxen (wie in den Willkommens-Initiativen, aber längst nicht nur) stellen in dieser Situation ein wichtiges Moment politischer ‚Gegenmacht’ dar – und zwar aus zwei Gründen: Zum einen geben sie konkret praktische Antworten und schaffen damit teils Abhilfe für politische hergestellte Krisenfolgen und Mangelsituationen. Zum anderen bieten sie Lernmöglichkeiten eines anderen Miteinanders und der kollektiven Selbstermächtigung. Politischer Frustration kann die Erfahrung entgegengesetzt werden, dass man die eigenen Lebensbedingungen gemeinsam ändern und mitgestalten kann.
Wir beobachten, dass viele (im Arbeitsleben, in der Politik, im Alltag) solche Erfahrung vielleicht nie gemacht oder die Hoffnung darauf verloren haben, dass sich die Verhältnisse zu einem solidarischen Miteinander verändern. Hier muss es auch darum gehen, über echte Alternativen zusprechen, damit diese überhaupt denkbar werden können. Die Diskussionen, die wir rund um die Idee einer Care Revolution führen, und die Aktivitäten der Gruppen im Netzwerk sind hier schon ein wichtiger und bereits erfolgreicher Ansatz. Sie leben und erweitern – wenn auch in kleinen Schritten – eine solidarische Perspektive, die an den Bedürfnissen der Menschen ansetzt und ein wünschbares Leben in Aussicht stellt. Wenn wir dabei solidarisches Handelns in den Mittelpunkt stellen, können wir rechtspopulistischen Projekten entgegentreten, die auf Ausgrenzung und Abschottung zielen.
Mit der Arbeit der Willkommensinitiativen bewegen wir uns allerdings auch in einem derzeit zentralen gesellschaftlichen Widerspruch: Solidarische und ehrenamtliche Praxis, die gesellschaftsverändernd wirken soll, findet sich angesichts der momentanen Politik schnell in der Situation wieder, durch unbezahlte Arbeit Lücken in der öffentlichen Versorgung zuschließen. Lücken, die die Sparpolitik der letzten Jahre erst gerissen hat. Lücken, die von politischen Entscheidungen gegen eine solidarische Gesellschaft zeugen. Gegen diese brutale Sparpolitik antretend, finden wir uns so in einer Situation, die gröbsten Mängel auszugleichen und damit auch Strukturen zu stabilisieren, die das Problem geschaffen haben. Eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse erreichen wir so nicht. Einer solchen kalkulierten und staatlich sogar umfassend geförderten „Ver-Ehrenamtlichung“ der öffentlichen Daseinsvorsorge können wir nur dadurch entgegen treten, dass wir uns dieses Widerspruchs bewusst sind und unsere solidarischen Praxen mit konkreten politischen Kämpfen um eine Veränderung dieser Bedingungen verbinden.
Dies bedeutet gerade nicht, sich aus ehrenamtlichen Tätigkeiten zurückzuziehen – im Gegenteil geht es darum, einen Weg zu finden, wie unsere Aktivitäten mehr und anderes sein können als ein bloßes Stopfen von Lücken. Lasst uns über die Perspektiven eines rebellischen, politischen Ehrenamts nachdenken.
Dieses ‚Mehr-und-Anders’ beinhaltet auch eine materielle Grundlage für solche ‚Gegenmacht’ zu schaffen. Eine gelebte Solidarität, wo Menschen teilen, wenn und was sie können, ermöglicht Erfahrungen, wie andere gesellschaftliche Strukturen aussehen können, die bedürfnisorientierter sind. Eine mittel- bis langfristige Perspektive zielt aber beispielsweise auch auf die Ausweitung von Kollektivbetrieben, selbstverwalteten Gesundheitszentren, Genossenschaften und ähnlichem, wie sie ja auch schon Teil unseres Netzwerks sind.
Das ‚Mehr-und-Anders’ bedeutet, dass solche solidarischen Praxen auf Gegenseitigkeit, zumindest dem Versuch von Augenhöhe und einem geteilten Interesse an Veränderung beruhen sollen. Dieser Gedanke lässt sich an dem Unterschied zwischen ‚Solidarität’ und ‚Wohltätigkeit’ deutlich machen: Solidarität beruht auf gemeinsamen Interessen und der Kommunikation von Bedürfnissen, während Wohltätigkeit einseitig zu Gunsten vermeintlich Bedürftiger geschieht und immer verschiedene Hierarchien impliziert: die einen geben, die anderen nehmen; die einen haben, die anderen brauchen; die einen sind aktiv, die anderen eher passiv; die einen können gehen, wenn sie wollen, die anderen sind auf Wohlwollen angewiesen. So stabilisieren sich Abhängigkeiten, statt Ansätze für einen gemeinsamen Kampf zu finden. Widerstand und Kämpfe derjenigen, die als ‚bedürftig’ markiert sind, werden unsichtbar gemacht. Oft schleichen sich solche Momente auch dort ein, wo man das genaue Gegenteil will – hier gilt es sich die gesellschaftlich produzierten Ungleichheiten immer wieder bewusst zu machen. Es geht darum, den Zusammenhalt zwischen gleichgestellten Menschen und Gruppen und den Einsatz für eine gemeinsame Zukunft zu erproben und in verbindliche Strukturen zu gießen. Es geht darum, gleiche Rechte für alle zu erkämpfen und die bereits bestehenden Kämpfe um diese Rechte sichtbar zu machen. Aber auch kleine Schritte bilden hier einen Anfang!
Auch wenn es ziemlich groß klingen mag, so sind wir der Überzeugung, dass die genannten Praxen und Erfahrungen auch eine wichtige Antwort auf die oben skizzierte Krise der Repräsentation, auf politische Entmutigung und nicht zuletzt auf den wachsende Bewegung von rechts darstellen. Zentral ist dabei, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen, denn die Angriffe der konservativen und rechten Kräfte verschärfen soziale Ungleichheiten und gelten all jenen, die sich eine solidarische Welt wüschen.
Beitrag in der Reihe Perspektiven von Viola Schubert-Lehnhardt.
Tanja Carstensen, Melanie Groß, Kathrin Schrader (Hg.): care sex net work. Feministische Kämpfe und Kritiken der Gegenwart. Unrast Verlag, Münster 2016, ISBN 978-3-89771-307-9, 176 S.
Der Band ist Gabriele Winker, der Gründerin und Initiatorin des Netzwerkes Care Revolution, zum 60. Geburtstag gewidmet. Insofern gehen die 22 Beiträge von MitstreiterInnen sowohl auf deren wissenschaftliche Laufbahn und gemeinsame Aktivitäten, als auch auf die durch die Jubilarin gegebenen Anregungen zur Entstehung und inhaltlichen wie praktischen Begleitung feministischer Kämpfe ein. Die Beiträge sind nach 3 Schwerpunkten geordnet: feministische Analysen als Antwort auf aktuelle Herausforderungen; Sorgearbeit in Bewegung und die Care Revolution; Technik als Feld feministischer Auseinandersetzung.
Der erste Abschnitt beginnt mit einer Arbeit von Nina Degele zum Thema „Anerkennung intersektionalisieren“. Damit eröffnet sie den Band mit einem nach wie vor aktuellem Thema, das von ihr gemeinsam mit G. Winker bereits seit einem Dutzend Jahren verfolgt wird: „wie lassen sich die mitunter festgefahrenen Diskussionen zu Feminismus, Gender und sozialer Ungleichheit sinnvoll weiter treiben, ohne ´den Kapitalismus´ als Strukturprinzip von Wirklichkeit zu unterschlagen und ohne Personengruppen oder Einzelne aus den Augen zu verlieren?“ (S. 12). Die weiteren Beiträge greifen diese eher unter TheoretikerInnen geführte Debatte auf an Hand aktueller Diskussionen in allen Kreisen der Gesellschaft – zunächst Kathrin Schrader mit ihrer Analyse der Positionen von sog. „besorgten Eltern“ zur frühkindlichen (Sexual)Erziehung; Tina Habermann zur Auseinandersetzung mit Sprach- bzw. Begriffsanalysen, Melanie Groß zu Prostitution und Sexportalen, Michel Raab zur (Nicht)Monogamie bzw. Lebensformen. Es schließen sich Beiträge von Jette Hausotter und Stefan Paulus zum Verständnis von Arbeit, deren Bewertung und Privilegien im Neoliberalismus an. Dabei wird (auch in den folgenden Beiträgen) insbesondere auf Solidarität in ihren verschiedenen Facetten eingegangen.
Der zweite Abschnitt wendet sich dem Herzstück von G. Winkers Schaffen zu: Care Revolution (siehe auch das Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“). Im ersten Beitrag von Anna Köster-Eiserfunke wird die Notwendigkeit transversaler Politiken begründet, dann durch Wibke Derboven auf das Thema Elternschaft eingegangen, um dann in einer kritischen Diskussion von „Parecon“ den Satz „eine andere Welt ist möglich“ mit Inhalten zu füllen (Matthias Neumann). Ann Wiesental liefert dazu mit dem „Kapital“ von Karl Marx eine theoretische Begründung, Arnold Schnittger zitiert ein Gedicht zum Thema „Revolution“ von Konstantin Wecker.
Der dritte Abschnitt geht in mehreren Beiträgen u.a. folgenden Fragen nach: „Was zeichnet die diskursive agency der Netzakteurinnen und Bloggerinnen aus? Wie gestaltet sich der Zusammenhang mit ´Medien und Diskurs´? Worin besteht der visionäre Gehalt der Diskurse? Wie ist das diskursive Veränderungspotential einzuschätzen?“ (Christina Schachtner, S. 156).
Hier wird dann das vorn bearbeitete Thema Solidarität unter dem Aspekt „digitale Solidarität“ wieder aufgegriffen, Empowerment in sozialen Netzen beschrieben bzw. von Helene Götschel „Gender und Diversity in der Physik“ am Beispiel der eigenen Lehrveranstaltungen thematisiert.
Dieser Mix aus theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen der AutorInnen macht den Reiz des vorliegenden Buches aus. Erfahrungsgemäß sind Beiträge in Festschriften eher kurz und werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Gerade dadurch regen sie jedoch auch zur weiteren Diskussion an – und hier ebenso zur Nachahmung und Weiterführung der beschriebenen praktischen Bewegungserfahrung.
Beitrag in der Reihe Perspektiven von der Regionalguppe Berlin des Netzwerks Care Revolution (Dieser Artikel ist in verkürzter Version erschienen in Analyse & Kritik 617.) (Artikel als PDF)
Das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz
Ausgerechnet am International Sex Workers’ Day, dem 2. Juni 2016, fand im Bundestag die erste Lesung des geplanten Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) statt. Wie zahlreiche Prostituierte und Unterstützer_innen vor dem Bundestag deutlich machten, war es ignorant, dass an dem Tag, an dem weltweit Prostituierte auf den Kampf um ihre Rechte aufmerksam machen, das umstrittene Gesetz das erste Mal gelesen wurde. Am 7. Juli wurde das Gesetz verabschiedet. Wieder riefen Prostituierte und Unterstützende zu Protesten vor dem Bundestag auf. Die Regionalgruppe Berlin des Care Revolution Netzwerkes unterstützte die Proteste. Vier Informationsveranstaltungen zum ProstSchG in Berlin und Potsdam waren während des Gesetzgebungsverfahrens von der Netzwerkgruppe organisiert worden. Und im Rahmen eines Abends mit politischen und kulturellen Beiträgen wurde ein gemeinsamer Blick auf Sexarbeit und bezahlte und unbezahlte Pflegearbeit geworfen. Denn Sexarbeit wird von der Regionalgruppe als Care-Arbeit betrachte wenn es z.B. darum geht, Menschen mit Behinderung durch Sexualassistenz überhaupt zu ermöglichen, sexuell aktiv zu sein. Die Frage, die darüber hinaus gestellt werden muss, lautet: Wo fängt Care-Arbeit an wo hört sie auf? Sind also zum Beispiel auch die Dienstleitungen, die man im Bordell kaufen kann, im Bereich der Care-Arbeit anzusiedeln? An diesem Punkt sind sich die Aktiven der Gruppe allerdings nicht einig: Die einen streiten für eine generelle Aufwertung von Sexualität, da sie Sexualität als Teil von menschlichen Grundbedürfnissen ansehen, als einen Aspekt des ‚guten Lebens für alle‘. Andere betrachten es zwar in jedem Fall als legitim, wenn sich Sexarbeiter_innen entschließen im Bordell zu arbeiten, würden aber den Sexarbeitsbereich jenseits der Sexualassistenz nicht per se als Care-Arbeit bezeichnen. Diese und andere Fragen und Widersprüche sollte die oben erwähnte Veranstaltung in der Werkstatt der Kulturen der Welt in Berlin thematisieren. Zudem ging es um Fragen, wie die Auseinandersetzungen im Care-Bereich miteinander verbunden werden könnten, das Sprechen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede und einer Aufwertung aller Pflege- und Sorgearbeit zu bewirken.
Beratungsstellen für Sexarbeiter_innen wie move e.V., Hydra e.V., Doña Carmen e.V. und die Berufsverbände BSD e.V. und BesD e.V. etc. kritisieren das Gesetz scharf. Prostituierte sehen sich hier mit einer überholten und bevormundenden Opferrhetorik durch SPD und CDU/CSU konfrontiert, die unterschiedliche Lebensrealitäten von Prostituierten bewusst ausblendet. So geht die Koalition z.B. von einer besonderen Schutzbedürftigkeit von Prostituierten mit Migrationshintergrund aus, die ohne Bildung und berufliche Perspektive nach Deutschland kämen und hier aufgrund ihrer schwachen Position schnell Opfer der sogenannten Sexindustrie würden. Diese Seite der Sexarbeit, nämlich die erzwungene, ist selbstverständlich nicht von der Hand zu weisen und es ist vollkommen klar, dass es diese zu bekämpfen gilt. Dennoch koexistieren freiwillige und erzwungene Sexarbeit nebeneinander. Zwischen diesen beiden Polen gibt es außerdem viele Graustufen und Zwischenschritte. Diese Gleichzeitigkeit zu ignorieren und nicht anzuerkennen, vielmehr zu suggerieren, dass Sexarbeit im Grunde immer ‚falsch‘ sei, ist eine Haltung, die auch antifeministische Züge trägt, da sie berufstätige, selbstständige Frauen entmündigt; ihnen wird erklärt, dass das, was sie tun, eigentlich falsch sei, Sexarbeiter_innen also quasi vor sich selbst geschützt werden müssten.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE lehnen den Entwurf indes ab. Bis 2002 hatten Prostituierte in der Bundesrepublik übrigens kaum Rechte – so konnten sie z.B. ihren Lohn nicht einklagen. Das hat sich etwas verbessert, als von der rot-grünen Bundesregierung das Prostitutionsgesetz (ProstG) eingeführt wurde. Seitdem sind die Vereinbarungen zwischen Prostituierten und ihren Kund_innen nicht länger sittenwidrig und damit nicht mehr zivilrechtlich unwirksam. Weiter können und sollen die Sexarbeiter_innen in die Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenkasse einzahlen.
… verhindert kollektive Organisierung
Das neue Gesetz sieht vor, dass Prostitutionsstätten, in denen mehr als zwei Menschen arbeiten, eine Gewerbeerlaubnis einholen müssen. Diese Regelung wird zur Folge haben, dass viele Betreiber_innen von kleinen Wohnungsbordellen schließen müssen, da sie die Auflagen (getrennte Sanitärbereiche etc.) zur Anmeldung eines Gewerbes nicht erfüllen können. Neben dieser Erlaubnispflicht für Gewerbestätten greift im Kontext der Bordellbetreibung das Baurecht, das Bordelle als Vergnügungsstätten nur in Kern-, Gewerbe- oder Industriegebieten duldet. Konsequenz wird sein, dass es keine legale Wohnungsprostitution mehr geben wird. Gerade in Wohnungsbordellen haben Sexarbeiter_innen allerdings bislang die Möglichkeit selbstständig, flexibel, ohne Zwang und im Kollektiv mit anderen Prostituierten zu arbeiten. Laut einer Schätzung von Hydra e.V. sind zum Beispiel in Berlin 80% aller Prostitutionsstätten Wohnungsbordelle, die nun größtenteils werden schließen müssen. Großbordelle dagegen werden die Auflagen erfüllen können.
… weitet Kontrolle und Repression aus
Darüber hinaus werden sich Prostituierte neuen Sonderkontrollen durch den Staat unterziehen müssen: Sie müssen sich fortan alle zwei Jahre individuell mit Familiennamen registrieren lassen und die Bestätigung dessen mit sich tragen, quasi einen „Prostituiertenausweis“. Die Daten zur Erstellung des Ausweises werden bei der Behörde gespeichert. Daten über die Sexualität von Personen zu sammeln, ist allerdings brisant, denn wie die Daten durch die jeweiligen Behörden ausreichend geschützt werden sollen, lässt der Entwurf offen. Darüber hinaus ist zu fragen: Wer wird einen „Prostituiertenausweis“ beantragen? Sicherlich werden sich nicht die Prostituierten ohne Papiere, die illegal in Deutschland leben, bei einer Behörde anmelden, denn diese müssten Verhaftungen befürchten. Auch Betroffene von Menschenhandel werden sich nicht anmelden, ebenso wenig die vielen Prostituierten, die in kleinen Bordellen z.B. in der Wohnungsprostitution arbeiten, welche die neuen Voraussetzungen für eine Gewerbeerlaubnis nicht erfüllen können. Auch die Prostituierten in kleineren Städten werden zum Teil auf eine Anmeldung verzichten. Da der Schutz der Anonymität der Großstadt fehlt, droht hier das zwangsweise Outing. Das Hurenstigma wirkt fort. Es ist auch im Jahr 2016 durchaus eine gesellschaftlich anerkannte Praxis, Menschen, die den Beruf der Sexarbeit ausüben, öffentlich zu diffamieren.
Mit dem ProstSchG wird also vor allem eine Verdrängung der Wohnungsprostitution bewusst in Kauf genommen. Prostitution soll fortan explizit in Großbordellen stattfinden und somit besser kontrolliert werden können. Doch das Gegenteil ist zu erwarten. Prostitution wird verstärkt im Verborgenen stattfinden. Wer im Verborgenen arbeitet, ist dem Druck durch Kund_innen und Zuhälter_innen stärker ausgeliefert und ist erpressbarer. So wirkt das Gesetz vor allem repressiv statt ermächtigend auf die Arbeitenden.
Gegenwind bekommt das Gesetz aber auch von Alice Schwarzer und anderen selbsternannten „Abolitionist_innen“, denen der Entwurf in Sachen Sondergesetze für Prostituierte noch zu lasch ausfällt. Ähnlich argumentiertGunhild Mewis in der Zeitung Analyse und Kritiku.a. für ein generelles Sexkaufverbot und eine Strafverfolgung der Kund_innen. Diese Positionen, die in der Debatte um das Gesetz einige Aufmerksamkeit bekommen haben, zeichnen sich durch eine unrealistische Analyse der vielfältigen Lebensverhältnisse in der Prositution aus. In einer Rhetorik der Pauschalabwertung werden Prostituierte per se entweder als „Überlebende“ (dieses und alle folgenden Begriffe in Anführungszeichen stammen aus dem eben zitierten Artikel von Gundhild Mewes in AK 616) der Prostitution dargestellt oder als „Privilegierte“, die freiwillig dort arbeiten, wo andere gezwungen werden, wie „Sklav_innen“ zu vegetieren. Dabei ist auch die Forderung nach Repressionen gegen Privilegierte rückschrittlich, handelt es sich doch bei den genannten Privilegien nicht selten um erkämpfte Rechte (das Recht auf selbstbestimmtes Ausleben von Sexualität, das Recht, über den eigenen Körper bestimmen zu können, das Recht, freiwillig als Sexarbeiter_in zu arbeiten usw.), die unbedingt für alle gelten sollten. Die Debatte wird sogar bewusst polarisiert, um sich selbst als moralisch ’sauber‘ präsentieren zu können im Gegensatz zu einem vermeintlichen Gegenüber, „den linken Helfern der Sexindustrie“. Mewis und andere scheinen sich somit lieber Schattenkämpfen um die Aufwertung des eigenen Images hinzugeben, als einen tatsächlichen und politischen Realitätscheck zu vollziehen. Eine Bauchnabelschau a là „wer hat die reinere Weste?“ hilft den Sexarbeiter_innen aber nicht weiter.
… verbessert die Lage der Sexarbeiter_innen nicht
Es gibt verschiedene Gründe für Menschen, einer Sexarbeit nachzugehen – oftmals stehen ökonomische Motive, Armut und Perspektivlosigkeit dahinter. Diese Gründe treffen auch auf andere Berufe zu. Die moralisierende Behauptung, dass Prostitution an sich immer ein patriarchaler Akt der Gewalt an Frauen und daher grundsätzlich abzulehnen sei, kann deshalb nicht als Ausgangspunkt in der politischen Auseinandersetzung dienen. Es sollte weniger um Zugehörigkeiten, entsprechende Privilegien und individuelles Schuldbewusstsein gehen, sondern um ungleiche Rechte, die zu diesen Verhältnissen führen. Im Mittelpunkt sollten also Forderungen nach Rechten für Migrant_innen (Arbeitserlaubnis, Bildung etc.) und für Prostituierte, wie die Abschaffung der Sperrbezirksverordnungen, des Prostituiertenausweises und der polizeilichen Sonderrechte, stehen. Dazu müssten grundsätzlich Selbsthilfe, Professionalisierung und mehr bedarfsgerechte Beratungsstellen installiert werden. Zudem ist der starke ökonomische Druck, der tagtäglich auf Menschen lastet, nicht auszublenden. Es ist kein Geheimnis, dass die Stärkung der Rechte von Arbeitenden und die Möglichkeit sich zu organisieren, sich auszutauschen und sich zu beraten, dazu führen, dass weniger Zwang auf Einzelne ausgeübt werden kann. Daher ist neben einer Selbstermächtigung der Prostituierten auch die Stärkung der Position der Prostituierten als Arbeitnehmer_innen durch u.a. die Dienstleitungsgewerkschaft ver.di ein wichtiges politisches Handlungsfeld.
… und muss deshalb zurückgenommen werdenweiterlesen
Die Charité ist ein gemeinsamer Betrieb der Berliner Universitätskliniken. Hier erkämpften die Beschäftigten im Mai 2016 einen Tarifvertrag über eine Mindestpersonalbemessung auf den Pflegestationen. Dieser Tarifvertrag ist über Jahre gegen anhaltenden Widerstand durchgesetzt worden und wird, so sieht es momentan aus, zum Vorbild für Arbeitskämpfe in anderen Krankenhäusern. An der Auseinandersetzung, die an der Charité geführt wurde, ist vieles neu und besonders. Dies soll im Folgenden dargestellt werden.
Dass ein Arbeitskampf geführt wird mit dem Ziel, mehr Pflegekräfte auf den Stationen einzusetzen, ist ungewöhnlich und ist eine Reaktion auf den massiven Arbeitsdruck, dem Pflegende im Krankenhaus ausgesetzt sind. Diese Belastung ist nicht durch den Arbeitsinhalt erzeugt, sondern durch den Rahmen, in dem das Pflegepersonal seine Arbeit tut. Und dieser Rahmen ist mit der Einführung von Fallpauschalen 2004 massiv zulasten der Pfleger_innen verändert worden. Fallpauschalen bedeuten, dass jedem Krankheits- und Verletzungsfall über das DRG (Diagnosis Related Group)-System ein Aufwand zugeordnet wird, gemäß dem das Krankenhaus eine Vergütung erhält. Während die Einstellung zusätzlicher Ärzt_innen zusätzliche abrechenbare Leistungen, beispielsweise Operationen, nach sich zieht, stellen Pflegekräfte in diesem System einen reinen Kostenfaktor dar; es rentiert sich, ihre Arbeit so umfassend wie möglich zu verdichten und zu rationalisieren.
Die ins Unerträgliche wachsende Arbeitsbelastung der Pfleger_innen thematisierte die Gewerkschaft ver.di im April 2011 mit der Kampagne „Der Druck muss raus“ für bessere Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern. Dabei zielte die Gewerkschaft auf eine gesetzliche Regelung von Mindeststandards bei der Besetzung der Stationen mit Pflegekräften ab. Auf diese Weise sollte eine Allgemeingültigkeit der Mindestbesetzung erreicht werden, so dass Krankenhausunternehmen nicht durch den Einsatz von weniger Pflegekräften Kostenvorteile erzielen. Die Betriebsgruppe der Charité entschied sich, nicht auf die Durchsetzung einer gesetzlichen Regelung zu warten, sondern einen Tarifvertrag zur Mindestbesetzung der Stationen anzustreben. Damit ließ sich im Unterschied zu einer Kampagne für ein Gesetz auch das Mittel des Arbeitskampfes ein. Kern der Forderungen an der Charité war ein Personalschlüssel auf den Stationen von einer Pflegekraft zu fünf Patient_innen, auf Intensivstationen war das Ziel ein Verhältnis von 1 zu 2.
Vom Start der Kampagne „Der Druck muss raus“ bis zur Aufnahme von Tarifverhandlungen dauerte es dann drei Jahre, in denen die Leitung der Charité systematisch Verhandlungen verzögerte und verweigerte. Im April 2016 setzten die Charité-Beschäftigten einen Tarifvertrag zu Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung durch. Mit großer Mehrheit (knapp 90 Prozent) stimmten die Gewerkschaftsmitglieder dem Vertrag zu. Für Intensivstationen (1:1 bis 1:3) und für die Kinderklinik (1:6,5) wurden Personalschlüssel festgelegt. Für die „Normalpflegestationen“, drei Viertel der Stationen der Charité, wurde dies nicht erreicht. Jedoch gibt es Orientierungswerte, deren Einhaltung ein paritätisch besetzter Gesundheitsausschuss und eine neutrale Ombudsperson sicherstellen sollen. Die Sperrung von Betten ist möglich, wenn die festgelegten Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen nicht eingehalten werden. Dies hätte finanzielle Einbußen für das Unternehmen zur Folge. Dieser Vertrag, weiterhin ein Kompromiss, läuft zunächst bis Juni 2017.
Schon das Ergebnis der jahrelangen Auseinandersetzung ist bemerkenswert und Neuland. Darüber hinaus ist jedoch vieles an der Auseinandersetzung selbst auch lehr- und hilfreich für Care-Aktive innerhalb und außerhalb der Krankenhäuser. Drei Bereiche scheinen mir besonders wichtig zu sein:
Es zeigte sich, dass der neoliberale Umbau der Krankenhausfinanzierung, der die Pfleger_innen den Auswirkungen des Kostendrucks aussetzt, die Krankenhausbetriebe in Arbeitskämpfen angreifbarer macht. Im Streik 2011, in dem die schrittweise Wiederangleichung der Löhne an den Tarifvertrag des öffentlichen Diensts durchgesetzt wurde, erzwangen die Streikenden die Schließung von 40 Stationen mit knapp der Hälfte der Betten an der Charité, gleichzeitig fielen 90% der Operationen aus.[1] Mit dieser Strategie nutzten sie den Umstand, dass dem Krankenhaus nach dem Prinzip der Fallpauschalen durch jede ausgefallene Operation und jede_n aus Bettenmangel nicht aufgenommene_n Patient_in Einnahmen entgehen. In diesem fünftägigen Streik erlitt die Charité Verluste von ca. 5.5 Millionen €[2]. Gleichzeitig ermöglichten die Stationsschließungen mehr Pflegenden eine Streikteilnahme, da der Notdienst eingeschränkt werden konnte und Pfleger_innen aus dem Dilemma herauskamen, neben ihren Interessen als Lohnabhängige für das Wohl der von ihnen betreuten Menschen verantwortlich zu sein.Dass vergleichsweise kurze Streiks wie 2011 und 2015 oder bereits die glaubwürdige Ankündigung eines Streiks wie 2014 solche Wirkung erzielen, zeigt vermutlich zweierlei: Zum einen macht das System der Fallpauschalen die Krankenhausbetriebe tatsächlich angreifbar, zum anderen musste das Management davon ausgehen, dass die Belegschaft auch einen längeren Ausstand geschlossen durchhalten würde.
Die Krankenhausbeschäftigten waren während der Streiks und auch bei Auseinandersetzungen unterhalb dieser Schwelle in einem Maß einbezogen, das für eine DGB-Gewerkschaft ungewöhnlich intensiv ist. Exemplarisch lässt sich das an drei Beispielen zeigen. Über die Annahme des Tarifvertrags 2014 wurde auf einer öffentlichen Mitgliederversammlung entschieden, auch das Ergebnis der Tarifverhandlungen 2016 legte die Tarifkommission den organisierten Beschäftigten zur Urabstimmung vor. Dies ist längst nicht überall üblich.Während des Streiks 2015 spielten Tarifberater_innen aus der Belegschaft eine wichtige Rolle, die den Informationsfluss zwischen Stationen und Streikleitung herstellten. Aktive auf den Stationen hatten aber auch für den Tarifvertrag 2014 eine zentrale Bedeutung und haben diese auch jetzt wieder. Denn die Rückmeldung, ob die Regelungen zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen und ob das Management sie überhaupt einhält, können nur die auf den Stationen Arbeitenden als „Expert_innen in eigener Sache“ geben. Deswegen schätzt Carsten Becker, Vorsitzender der ver.di-Betriebsgruppe, den Tarifvertrag als aktivierend ein: „Wir können uns jeden Tag dafür einsetzen, unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern.“[3] Diesen alltäglichen Kampf gegen die Überlastung der Pflegenden unterstützte die Betriebsgruppe schon zuvor mit der „Aktion Notruf“. Hier wurden Stationsteams aufgefordert und dabei unterstützt, Überlastung und Qualitätseinbußen bei der Pflege anzuzeigen und Maßnahmen zur Behebung der Missstände einzufordern. Die Zusammenarbeit mit dem Personalrat gibt den Stationsbeschäftigten ein realistisches Drohpotential in die Hand: Während sie ankündigen, über den Arbeitsvertrag hinausgehende Leistungen zu verweigern, kann der Personalrat die Zustimmung zu Überstunden verweigern. In der Folge kann dies zur Schließung von Stationen führen. Zusätzlich veröffentlichte ver.di im Juni 2015 sieben ausgewählte Notrufe und skandalisierte die Zustände an der Charité auch öffentlich.
Der Wunsch, das Wohl der Patient_innen zu berücksichtigen, wurde von Gewerkschafter_innen häufig als Hemmnis für die Bereitschaft gesehen, in Krankenhäusern und anderen Bereichen entlohnter Sorgearbeit effektive Arbeitskämpfe durchzuführen. Dieses Problem gingen die Aktiven an der Charité auf unterschiedliche Weise an, indem sie deutlich machten, wie durch mangelndes und überlastetes Personal auch Würde und Sicherheit der Patient_innen gefährdet werden: Von Beginn an stellte die Betriebsgruppe den Kampf für mehr Personal auf den Stationen und das Motto „Mehr von uns ist besser für alle“. Auch die Aktion Notruf stellte heraus, wie sich die Unterbesetzung einzelner Stationen auf Pfleger_innen und Pflegebedürftige gleichermaßen auswirkt. Dass solche Probleme an die Öffentlichkeit gebracht werden, ist ein Schritt, der nicht unterschätzt werden sollte.Hier mobilisiert eine Beschäftigtenvertretung gesellschaftliche Unterstützung, indem sie der Geschäftsleitung die Mitwirkung dabei verweigert, die Zustände im Krankenhaus als intakt darzustellen.
Neben diesem allgemeinen Bezug auf Patient_inneninteressen und die Interessen sorgender Angehöriger stellten Gewerkschafter_innen gemeinsam mit Care-Aktiven außerhalb der Charité diesen Bezug auf eine organisatorische Grundlage. Im Juli 2013 gründete sich das
„Bündnis Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus“weiterlesen
Eine Szene in Berlin: „Parkfriedhof Neukölln: Vor den Feierhallen steht ein Notenständer mit einem Zettel, der den Ablauf der ordnungsbehördlichen Bestattung erläutert: »Beisetzungen am 24.6.2015: 10:45 Waltraud S.; 10:46 Waltraud H.; 10:47; Lieselotte F.; 10:48 Karlheinz K.; 10:49 Andreas D.« Neben dem Notenständer steht ein Bollerwagen, in dem die fünf weißen Urnen zum Grab transportiert werden. Wir gehen zur »Grünen Wiese«. Fünf ausgebuddelte Löcher, davor ist grüner Kunstrasen ausgelegt, auf der linken Seite zwei Schubkarren voll mit Erde. Um 10.45 Uhr kommt der Trauerzug, dieser besteht aus dem Friedhofsgräber und einem Trauergast“. (Seeck 2016: 25)
In der BRD gilt die Bestattungspflicht für Tote. Sie liegt bei den Erb_innen und unterhaltspflichtigen Verwandten der Verstorbenen. Dazu zählen „der Ehegatte oder der Lebenspartner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, die volljährigen Kinder, die Eltern, die volljährigen Geschwister, die volljährigen Enkelkinder, sowie die Großeltern“ (Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales 2007). Die finanzielle und soziale Situation der Zugehörigen bestimmt mit, wie Tote verabschiedet und bestattet werden. Neben dem Kampf für ein gutes Leben sollten auch die Bedingungen unter denen Menschen sterben und trauern Thema einer Care Revolution sein.
Aktuell werden immer mehr arme Menschen in Deutschland, für die keine Zugehörigen die Bestattungspflicht wahrnehmen, ohne Grabstein und Namen, ohne Trauerfeiern und Blumenschmuck von Gesundheits- und Ordnungsämtern bestattet. Auch ihr Hab und Gut wird nach einigen Wochen von den Ämtern entsorgt. Diese Bestattungen nennen sich „ordnungsbehördliche Bestattungen“ oder „Bestattungen von Amts wegen“ und treffen Menschen, die keinen Bestattungsvorsorgevertrag abgeschlossen haben und meistens relativ isoliert und in Armut sterben. Wenn das zuständige Ordnungs- oder Gesundheitsamt innerhalb von einem kurzen Zeitraum, der in Berlin sieben Tage beträgt, keine bestattungspflichtigen Angehörigen ausfindig macht, werden die Verstorbenen anonym bestattet. In Berlin werden jährlich ca. 2000 bis 2500 Menschen auf diese Art und Weise bestattet (vgl. Schäfer 2013). Insbesondere arme Menschen und Menschen, die vereinzelt oder abseits von ‚klassischen‘ Kleinfamilien gelebt haben, sind nach ihrem Tod von dieser staatlichen Beerdigungspraxis betroffen. Die Ausführungsvorschriften des Berliner Bestattungsgesetzes legen fest: „Kosten für eine Trauerfeier, für Redner und für die Ausschmückung der Halle darf das Bezirksamt nicht übernehmen“ (Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales 2007). Teilweise, wie z.B. in dem Berliner Bezirk Neukölln, finden die ordnungsbehördlichen Bestattungen monatlich als Sammelbeerdigung statt (siehe Foto). An jedem ersten Mittwoch im Monat werden dort Menschen im Minutentakt beerdigt. Oft wurden diese Menschen schon zu Lebzeiten durch Klassismus, Rassismus und psychosoziale Normalitätsvorstellungen marginalisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt. Einer dieser Menschen war mein Vater Uwe Beier, der vor acht Jahren in Berlin-Neukölln verstarb. Ich erfuhr erst über eine Rechnung des Gesundheitsamtes Neukölln von seinem Tod und der ordnungsbehördlichen Beerdigung. Die Tatsache, dass die Nachlassstelle bereits alle seine persönlichen Gegenstände ‚entsorgt‘ hatte – er hat Gedichte und Geschichten geschrieben und gemalt – mit dem Hinweis diese hätten „keine Kosten gedeckt“, machten mir trauern fast unmöglich. Erst der Austausch mit anderen Angehörigen, Freund_innen von ordnungsbehördlich Bestatteten und Ehrenamtlichen von Kälteschutzeinrichtungen (Notunterkünfte für wohnungslose Menschen) machte mir klar, dass ich mit dieser Geschichte nicht alleine bin. Viele Menschen leiden unter den Bedingungen, unter denen arme Menschen, und insbesondere Menschen die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, sterben und bestattet werden. Diese Bedingungen verunmöglichen ein Recht auf Erinnerung und Trauer und verweigern den Menschen auch nach dem Tod Anerkennung.
Ordnungsbehördliche Bestattungen verstehe ich im Kontext einer zunehmenden Neoliberalisierung des Sterbens. Im Sinne des „Projektes Lebensende“ (Schneider, 2014, S. 130) werden Menschen aufgefordert vorzusorgen und das eigene Lebensende zu planen und zu bezahlen. 2004 wurde das Sterbegeld der gesetzlichen Krankenkassen abgeschafft, welches 1000 Euro im Todesfall bereitstellte. Menschen, die ordnungsbehördlich bestattet werden, wird vorgeworfen, sie wären dem individualisierten Vorsorgeaufruf nicht nachkommen und ihnen bzw. ihren Freund_innen wird die Schuld für die menschenunwürdige Bestattung gegeben.
Auch wenn Zugehörige die Bestattungspflicht wahrnehmen, können sich viele Menschen die Bestattung ihrer Angehörigen oder Freund_innen nicht mehr leisten. Die Zahl der Sozialbestattungen, bei denen das Sozialamt die Kosten trägt, stieg seit der Abschaffung des Sterbegeldes stark an. Im Jahre 2005 übernahmen die Behörden in Deutschland noch die Kosten von 7.695 Sozialbestattungen, 2011 waren es bereits 23.032 (vgl. Schäfer 2013). Auch hier finanzieren die Ämter meistens weder Blumenschmuck noch Trauerfeier. Laut des Diakonischen Werks haben Sozialbestattungen und ordnungsbehördlich angeordnete Bestattungen inzwischen einen Anteil von ca. zehn Prozent an allen Beisetzungen in Berlin (vgl. Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. 2010). Welche Kosten die Kommune bei einer Sozialbestattung zahlt, kann sie selbst bestimmen. So wird dann in Zeiten von knappen öffentlichen Kassen häufig bei den Sozialbeerdigungen gespart, gleichzeitig steigen jedoch die Friedhofsgebühren. Während die Sozialbehörden der Stadt Dresden bei einer Feuerbestattung für die reine Beerdigungsleistung 1450 Euro zahlen, sind es in Berlin lediglich 750 Euro.
Die Bestattungspraxis ist in Deutschland von Machtverhältnissen, insbesondere Klassismus, geprägt. Klassismus verstehe ich angelehnt an Andreas Kemper und Heike Weinbach (2009) als individuelle, institutionelle und kulturelle Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund des tatsächlichen oder zugeschriebenen sozial- oder bildungspolitischen Status eines Menschen. So haben Erwerbslose, Arme und Wohnungslose geringe finanzielle Ressourcen und werden auf verschiedenen Ebenen diskriminiert, u.a. durch die Abwertung von Lebensweisen und die Individualisierung von Armut (ebd.: 30). Neben Klassismus sind ordnungsbehördliche Bestattungen von Heteronormativität durchzogen. So informieren Mitarbeiter_innen der Gesundheits- und Ordnungsämter Berlins ausschließlich bestattungspflichtige Angehörige über den Tod. Freundschaften und soziale Beziehungen jenseits von Herkunftsfamilie und klassischen Kleinfamilien werden nicht über den Tod des Menschen informiert.
Dieser institutionalisierte Umgang mit dem Tod führt dazu, dass nicht alle Menschen gleichermaßen betrauerbar sind. Betrauerbarkeit wird hier gesellschaftlich hergestellt und ist geprägt von Rassismus, Klassismus, Ableismus und Heteronormativität. Die Philosophin Judith Butler betont den Zusammenhang zwischen einer ungleichen Verteilung von Betrauerbarkeit und der Anerkennung des gelebten Lebens. Sie fragt: “Who counts as human? Whose lives count as lives? And finally, what makes for a grievable life?” (Butler 2004: 20).
Ich sehe es als Ausdruck einer Krise sozialer Reproduktion, dass die Schere zwischen den Menschen, die sich eine sehr teure und individuelle Bestattung leisten können, und jenen, denen das Geld für die Beerdigung fehlt, sich zunehmend öffnet. Es gibt allerdings auch Menschen, die sich hier für Veränderung einsetzen: Initiativen schaffen Gräber, in denen arme Menschen würdevoll beerdigt werden, wie beispielsweise das „Grab mit vielen Namen“ in Berlin Kreuzberg. Diese Gräber und Gedenkorte schaffen alternative Trauerräume, in denen Menschen, die aufgrund von Klassismus oder anderen Machtverhältnissen diskriminiert wurden, namentlich erinnert werden. Alternative Bestatter_innen gründen gemeinnützige Netzwerke zur Förderung neuer Umgangsweisen mit Sterben, Tod und Trauer und setzen sich dabei für menschenwürdige Sozial- und ordnungsbehördliche Bestattungen ein. Bei ordnungsbehördlichen Bestattungen finden Interventionen statt, allerdings auf eine weniger sichtbare Weise. Friedhofsmitarbeiter_innen öffnen heimlich Türen von Kapellen oder Feierhallen und stellen diese Trauergästen zur Verfügung, die nicht dafür zahlen können, Trauergäste legen namentliche selbstgestaltete Erinnerungsstücke auf anonyme Wiesen und kommen miteinander über die Praxis der ordnungsbehördlichen Bestattungen ins Gespräch.
Die Möglichkeit namentlich und mit einer Trauerfeier beerdigt zu werden sollte nicht vom Geldbeutel des Verstorbenen oder der Angehörigen und Freund_innen abhängen. Die Art und Weise, wie Menschen bestattet werden und die Möglichkeiten ihrer Freund_innen und nahen Menschen diese zu gestalten, hat einen großen Einfluss auf ihre Möglichkeit zu trauern. Der gesellschaftliche Umgang mit Sterbenden, Toten und Trauernden die von Diskriminierung betroffen sind und wenig materielle Ressourcen zur Verfügung haben, lässt die Frage aufkommen, inwieweit eine Gesellschaft die Menschenwürde Aller achtet. Neben den Bedingungen unter denen Menschen leben, sollten wir als Care Aktivist_innen auch die Bedingungen verändern, unter denen Menschen sterben und trauern.
Quellen
Butler, J. (2004): Precarious life. The Powers of Mourning and Violence. London: Verso.
Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. (2010): Sozialbestattung eine Handreichung für Kirchengemeinden und evangelische Friedhöfe.
Kemper, A./Weinbach, H. (2009): Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast.
Schäfer, C. (2013): Armenbegräbnisse. Ruhe sanft und billig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.2013.
Schneider, W. (2014): Sterbewelten. Eine Ethnographie. Wiesbaden: Springer-Verlag.
Seeck, F. (2015): Interventionen gegen anonyme ordnungsbehördliche Bestattungen. Recht auf Trauer am Beispiel des Grabs mit vielen Namen in Berlin. „Ein Grab für Wohnungslose und Arme – ein Ort des Erinnerns.“ (Unveröffentlichte Masterarbeit). Berlin.
Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (2007): Ausführungsvorschriften über ordnungsbehördliche Bestattungen nach § 16 Abs. 3 des Bestattungsgesetzes. url: http://www.berlin.de/sen/soziales/berliner-sozialrecht/land/av/av_ord_bestattung.html (1.8.2015)
Millionen Menschen sind auf der Flucht – vor Krieg, Gewalt, Armut. Es sind die Regierungen des Westens, die mit Rüstungsexporten und wirtschaftlichen Eingriffen wie Raubbau natürlicher Ressourcen, Privatisierung sozialer Infrastruktur und Lebensmittelsubventionen zugunsten großer Kapitale die Lebensgrundlage Millionen von Menschen zerstören. Den daraus entstehenden Fluchtbewegungen begegnen diese Regierungen mit Abschottungsstrategien – vom militärischen Frontex-Einsatz im Mittelmeer über mit Stacheldraht gesicherte Grenzzäune bis zu massiven Grenzkontrollen zur Abschreckung. Und doch gibt es in diesem bedrückenden Szenarium Lichtblicke der Menschlichkeit, wenn Hunderttausende von Menschen die Ankommenden mit dem nötigsten Essen und Trinken sowie Kleidung und Decken versorgen und sie freundlich und positiv begrüßen. Hier sorgen Menschen für andere, geben ein Stückchen ihrer häufig knappen zeitlichen oder finanziellen Ressourcen für die Unterstützung von Menschen in Not. Dies sind ermutigende Zeichen der Solidarität. Im Folgenden geht es mir darum zu verdeutlichen, wie sich Unterstützung für Geflüchtete im Rahmen der Strategie der Care Revolution weiterdenken lässt.
Für Samstag, 30.05.2015, rief das Bündnis für gute Sorgearbeit und Geschlechtergerechtigkeit zu einer Demonstration in Solidarität mit den Streikenden in den Sozial- und Erziehungsdiensten in Göttingen auf.
Die Ökonomie ist zu einer Art Leitwissenschaft geworden, aus der viele Menschen ihre Anschauungen über „normal“ und „richtig“ beziehen, über den Wert von Beziehungen und Tätigkeiten. Doch ausgerechnet diejenigen Maßnahmen zur Bedürfnisbefriedigung, die immer noch von viel mehr Frauen als Männern gratis in so genannten Privatsphären geleistet werden, kommen in der Wirtschaftswissenschaft gar nicht oder nur verzerrt am Rande vor. Welche Folgen hat diese Auslassung?
Zur Beantwortung dieser Frage unternimmt die Theologin Ina Praetorius in ihrem Essay „Wirtschaft ist Care“ eine Reise durch die Ideengeschichte des Abendlandes und zeigt die tiefe Verwurzelung einer ungerechten, zweigeteilten Ordnung in unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation.
Care Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Von Gabriele Winker
transcript-Verlag, März 2015
Viele Menschen geraten beim Versuch, gut für sich und andere zu sorgen, an die Grenzen ihrer Kräfte. Was als individuelles Versagen gegenüber den alltäglichen Anforderungen erscheint, ist jedoch Folge einer neoliberalen Krisenbearbeitung. Notwendig ist daher ein grundlegender Perspektivenwechsel – nicht weniger als eine Care Revolution.
Gabriele Winker entwickelt Schritte in eine solidarische Gesellschaft, die nicht mehr Profitmaximierung, sondern menschliche Bedürfnisse und insbesondere die Sorge umeinander ins Zentrum stellt. Ziel ist eine Welt, in der sich Menschen nicht mehr als Konkurrent_innen gegenüberstehen, sondern ihr je individuelles Leben gemeinschaftlich gestalten.
Wir sind heute hier – am 1. Mai, dem Tag der Arbeitskämpfe – um die unsichtbare Arbeit auf die Straße zu tragen! Denn ein großer Bereich der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, findet unsichtbar im Privaten statt.
Dabei geht es ganz unmittelbar um unser Leben, um unseren Alltag, d.h.: Wer sorgt für mich? Wie gut sind die Bedingungen, so dass ich für andere sorgen kann? Wer kümmert sich um Opa? Wer hält den Freundeskreis zusammen, trocknet Tränen oder wäscht die Wäsche…?
In der Logik des Kapitalismus sind das Arbeiten, mit denen sich kaum Profit erwirtschaften lässt. Aber sie müssen trotzdem möglichst billig erledigt werden, denn die Ökonomie braucht engagierte, flexible und leistungsstarke Arbeitskräfte und gut gelaunte Konsument_innen.
Ein gutes Leben steht im Widerspruch zur Konkurrenz und Profitlogik des Kapitalismus.
Für die unsichtbare private Sorgearbeit fehlen Zeit, Geld und Anerkennung. Aber auch da, wo Sorgearbeit als Erwerbsarbeit geleistet wird, steht sie unter Kostendruck, auch hier ist sie der kapitalistischen Profitlogik unterworfen. Profitsteigerung geht hier nur durch Kostensenkung. Dafür werden Löhne gedrückt, die Arbeitsbelastung steigt, die Qualität der Arbeit leidet massiv darunter.
Der Kostendruck auf das Soziale ist Teil des Systems. Care-Arbeit ist im Kapitalismus permanent unter Druck. Und durch die herrschende Krisenpolitik, verschärft sich dies zur Krise sozialer Reproduktion.
Wer für wen sorgt, wie gut jemand für sich und andere sorgen kann und wer wie viel Lohn
und Anerkennung für geleistete Sorgearbeit erhält – all das ist entlang von
Herrschaftsverhältnissen organisiert. Und diese betreffen uns nicht alle gleich.
Das rassistische Migrationsregime der Festung Europa verwehrt Flüchtenden den Zugang zu sozialer Infrastruktur und zu einem selbstbestimmten Leben. Die Migrationspolitik entrechtet Einwandernde. Als Einkommensmöglichkeiten hält sie für viele Migrierte die am schlechtesten bezahlten und schutzlosesten Arbeiten in der informellen Care-Ökonomie in Privathaushalten bereit. Rassismus und Klassismus bestimmen die ungleiche Verteilung von Einkommen, von Lebensmöglichkeiten, von politischer Teilhabe. Aber es stellt sich auch die Frage: wer kann sich steigende Mieten überhaupt noch leisten und wessen communities werden durch Verdrängung zerrissen?
Auch Geschlechterherrschaft spielt eine große Rolle für die unsichtbare Arbeit.
Im Privaten muss ausgeglichen werden, was öffentlich gekürzt wird.
Die unsichtbaren Arbeiterinnen sind in überwiegender Zahl Frauen, die Zuhause nach dem Job eine zweite Schicht fahren, die die blutigen Entlassungen aus kostenoptimierten Krankenhäusern kompensieren und die ihre Angehörigen pflegen und dafür auf Jobs, auf eigene Interessen und auf Rentenansprüche verzichten müssen. Die um sich greifende Unsicherheit, den Alltag überhaupt noch zu meistern, verstärkt traditionelle Rollenbilder, sexualisierte und häusliche Gewalt nehmen zu. Und es sind viele Frauen, die in ihren Jobs die Unterfinanzierung von Pflegedienstleitungen, Krankenversorgung, Kinderbetreuung, sozialer Arbeit am direktesten zu spüren bekommen.
Das alles nennen wir Krise der sozialen Reproduktion!
Wir tragen mit unserem Care-Revolution-Block heute die unsichtbare Arbeit im Kapitalismus auf die Straße.
Aber auch die unsichtbare Seite der Arbeitskämpfe!
Arbeitsverweigerung ist im Care-Bereich kaum möglich, denn wer bestreikt schon sein eigenes Leben oder das von Menschen, die von Sorgearbeit abhängig sind. Aber dennoch: viele Menschen wehren sich gegen die Bedingungen, unter denen diese Arbeit stattfindet. Sie kämpfen und organisieren sich.
Diese Aktivitäten verstehen wir als Teil einer Care-Bewegung. Diese Bewegung ist sichtbar geworden in einer großen Aktionskonferenz vor zwei Monaten in Berlin, sie ist sichtbar in den Blockupy Care-Mobs, sie ist sichtbar in den antirassistischen 8.März-Demos gegen die Lagerunterbringung von geflüchteten Frauen und Kindern, sie ist sichtbar in der Bündnisarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung, in den Streiks von Kita-Erzieher_innen und dem Kampf von Krankenpfleger_innen für eine Mindestpersonalbesetzung, in Kämpfen der prekär oder illegal beschäftigten migrantischen Haushaltsarbeiterinnen, die Arbeitsrechte erstreiten, in Protesten gegen soziale Verdrängung in Städten, in Aktionen pflegender Angehöriger, die aus der Isolation ausbrechen und den Armutsdruck bei häuslicher Pflege sichtbar machen, Aktionen von Sexarbeiterinnen gegen die Kriminalisierung ihrer Arbeit und Verdrängung aus innerstädtischen Räumen, in Kämpfen um die Anerkennung unterschiedlicher Lebensmodelle und Lebensweisen, Kämpfen gegen Diskriminierung und Armut!
Die Kämpfe zeigen sich in vielfältigen Themen und Protestformen, die an vielen Orten stattfinden und stärker werden. Alle diese Bewegungen kratzen an unterschiedlichen Ecken des gleichen Problems. Denn die Krise im Alltag vieler Menschen verschärft sich. Und all diese Kämpfe sind Teil des Widerstands gegen die Krise der sozialen Reproduktion.
Die strukturelle Krise der Kapitalverwertung soll auf Kosten unserer Lebensverhältnisse gelöst werden. Das lassen wir nicht mit uns machen! Dagegen fordern wir einen massiven Ausbau der staatlichen Investitionen in soziale Daseinsvorsorge. Wir fordern bessere Arbeitsbedingungen in den bezahlten Care-Sektoren. Doch dabei werden wir nicht stehen bleiben. Denn Care Revolution ist auch das Ringen um grundsätzlich andere Reproduktionsverhältnisse, in denen eine Kollektivität möglich wird, die den staatlichen Rahmen von Verwaltung, Individualisierung und sozialer Spaltung sprengt.
Wir rufen dazu auf, dem Kapitalismus und der herrschenden Krisenpolitik einen Widerstand entgegenzusetzen, der von diesen unsichtbaren Seiten der Ökonomie ausgeht. Die Care Bewegung steht für einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Es geht um nicht weniger als die Forderung, dass nicht Profitmaximierung, sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen im Zentrum politischen Handelns stehen muss.
Das heißt nicht, dass wir alle gleiche Interessen haben. Und auch nicht die gleichen Möglichkeiten, unsere alltäglichen Care-Kämpfe zu führen. Es ist eine Herausforderung, eine gemeinsame Sprache zu finden, unterschiedliche Interessen auszuhandeln, nicht alles zu vereinheitlichen und trotzdem das ‚gemeinsame Dritte’ nicht aus den Augen zu verlieren.
Unser Ziel ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen gutes Leben für alle möglich ist.
Für die Care Revolution!
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